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«Fortschritte werden manchmal zum Festanlass»

Marianne Wüthrich ist Mutter von drei Buben, den Zwillingen Tom und Leo sowie Max. Max ist infolge des Charge-Sydroms mehrfach behindert und Autist. Dies sorgt im bunten Alltag der Familie oft für allerlei zusätzliche Turbulenzen. Im Magazin imago und in diesem Blog schreibt Marianne Wüthrich regelmässig über den Familienalltag und ihre Erfahrungen.

«Fortschritte werden
manchmal zum Festanlass»

Meistens kommen sie voll und ganz unerwartet, die kleinen Fortschritte von Max. Umso mehr freut sich seine Mutter Marianne darüber – selbst dann, wenn der Teenager nicht gehorcht und seinen Willen durchsetzt. Hauptsache, er hat einen weiteren Schritt in Richtung Selbstbestimmung gemacht.

Als Max auf die Welt kam, erhielten wir ein sogenanntes Gesundheitsheft. Es dokumentiert die ersten Tage, das Trinkverhalten des Kindes, gibt eine Übersicht über Vorsorgeuntersuchungen und sonstige Tipps. Es gibt auch eine Seite, auf der die stolzen Eltern die Fortschritte des Kindes festhalten können, das erste Lächeln zum Beispiel, den Kopf heben, frei sitzen und gehen oder sprechen.

Bei Max sind heute noch Zeilen leer. Die ersten Jahre mit ihm fühlten sich manchmal an, wie eine Defizitkatalogisierung. Oft hatte ich den Eindruck, es dreht sich immer nur darum, was Max nicht kann. Natürlich wusste mein Verstand, dass es nicht primär darum ging, Max schlecht dastehen zu lassen, dass es ja auch kein Wettrennen ist, welches Kind als erstes laufen kann. Das Herz tat trotzdem manchmal weh. Wir waren gefühlt so weit hinten, dass wir nirgends mithalten konnten. Und oft mussten wir uns anhören: «Ah, das kann er ja auch nicht!» Damals hätten wir so gerne mal gehört: «Wow! Toll, er kann das!» Irgendwann war klar, dass Max in einer ganz eigenen Liga spielt und es also völlig sinnfrei ist, ihn mit irgendwem zu vergleichen, da er einen individuellen Zeitplan programmiert hat. Auch seine Brüder haben ihn längst überholt bei diesen messbaren Fortschritten.

Kleine Schritte hin zu mehr Selbstbestimmung

In den letzten Jahren hat sich unsere Sicht auf Max geändert. Natürlich wissen wir und sein nächstes Umfeld, wo Max’ Defizite liegen und dass er nicht vergleichbar ist mit durchschnittlichen Menschen. Das macht ihn besonders und seine Fortschritte manchmal fast zu einem Festanlass. Seit Max vor anderthalb Jahren die Primarschule abgeschlossen und zu den «Grossen» gewechselt hat, gibt es überraschend viele Momente, in denen er Fortschritte zeigt. Bei ihm sind das immer wieder kleine Schritte, für uns sind sie ganz gross. Oft stehen sie im Zusammenhang mit der Kommunikation und damit eben auch mit einem Stück Selbstbestimmung, die wir Max so gerne gewähren wollen.

Immer öfter erklärt Max über seinen Sprach-Compi: «Schuhe, spazieren!» Oder er ärgert sich beim Fernsehen, weil er Skirennen schauen will: «Umschalten!», teilt er uns dann mit. Kürzlich meinte er «Brötchen!», beim Frühstücken. Und ja, wenn nötig wäre ich für ihn extra zum Bäcker gegangen, denn die letzten rund 15 Jahre hat Max nur Birchermüesli gegessen.

Max isst mit seinem Bruder und seinem Vater Fondue
Mehr Selbstständigkeit führt zum mehr Selbstbestimmung: Fondueessen mit der Familie.

Kleine und grosse Jubelmomente

Kürzlich gab’s beim Apéro mit Freunden auf der Veranda ein Blätterteiggebäck. Max fand’s super, nahm sich selbstständig immer wieder davon. Irgendwann erklärten wir ihm, dass es noch Abendessen gibt und wir das Gebäck deshalb nun zur Seite stellen. Wir trugen das grosse Brett rein, stellten es auf den Esstisch und unterhielten uns kurz in der Küche. Ich staunte nicht schlecht und lachte laut, als ich über die Schulter meines Mannes sah, wie sich Max das Brett schnappte, es selbstständig und ohne Unfall durch die Balkontüre wieder nach draussen trug und dort gemütlich weiter ass.

Ein anderes Mal hatte ich für Freunde etwas Blechkuchen abgeschnitten und packte ihn in eine Dose zum Mitnehmen. Max fuchtelte und nahm meine Hand. Ich fragte ihn,ob er mehr Kuchen essen wolle. Nein, er wollte den Rest des Kuchens auch verpackt sehen. Er suchte sich eine dazu passende Dose, schnappte sich das richtig grosse Küchenmesser, schnitt Stücke ab und verpackte diese in die Dose. Für uns und Max, mit seiner ganz eigenen Zeitrechnung, sind das riesige Fortschritte, die uns verblüffen, zum Lachen bringen, glücklich machen. Wir brauchen sie, diese kleinen, grossen Jubelmomente, damit wir wieder Luft und Energie haben, den nicht immer einfachen Alltag zu stemmen. Denn Max wird noch viele Fortschritte machen müssen, damit wir ihm und seinen Wünschen gerecht werden können, und damit er ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen kann. Sicherlich wird es noch manche Krise und manches Geschrei und Gestampfe seinerseits geben auf diesem Weg. Aber gemeinsam werden wir diesen Weg gehen – mit all seinen Hürden aber auch grossartigen Momenten.

Übrigens: Die Gesundheitshefte der Zwillinge sind auch leer, nicht weil sie’s nicht gekonnt hätten, sondern weil ich schlicht nicht mehr dazu kam, die Daten einzutragen.

Marianne-Wüthrich

Marianne Wüthrich
Autorin und Präsidentin der Stiftung visoparents

In dieser Kolumne schreibt sie über ihren Alltag mit Max (17) und den Zwillingen Tom und Leo (14). Max ist infolge des Charge-Syndroms mehrfach behindert und im Autismus-Spektrum.

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