Forschung im Dienst
der Kinder
In der Forschungsabteilung der Kinder-Reha Schweiz entstehen zukunftsweisende Projekte, wie etwa eine Therapie in der virtuellen Welt und andere, die wir in diesem Artikel vorstellen. Franziska Spreitler, Leiterin Therapien, und Hubertus van Hedel, Leiter Forschung, geben Einblick in die Welt der Wissenschaft.
Hubertus van Hedel, die Kinder-Reha Schweiz ist bekannt für ihr vielfältiges Therapie-Angebot, aber auch für praxisnahe Forschung. Woran forschen Sie aktuell?
Hubertus van Hedel: Wir arbeiten zurzeit an rund 15 Forschungsprojekten. Dabei unterteilen wir in drei Bereiche: Assessments, Intervention und Partizipation. Assessments sind klinische Tests, mit denen wir den Gesundheitszustand der Kinder und Jugendlichen systematisch erfassen und Fortschritte dokumentieren. Im Bereich Interventionen erforschen wir vor allem die Anwendung und Effektivität verschiedener Rehabilitationstechnologien. Der dritte Bereich, die Forschung zur Partizipation, ist relativ neu bei uns. Wir wollen zusammen mit Zentren aus Bern und Winterthur erforschen, wie gut Kinder mit einer Cerebralparese und deren Familien in der Schweiz am Alltag teilhaben können.
Gibt es dazu noch keine Zahlen?
Hubertus van Hedel: In der Schweiz gibt es noch kaum Aussagen dazu. Aus internationalen Studien wissen wir aber, dass die Teilhabe von Kindern mit Cerebralparese in verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens geringer ist als bei Peers – allerdings gibt es auch hier kaum Daten zu den Geschwisterkindern oder der Familie als Ganzes. Für uns ist es wichtig zu erfahren, welche Faktoren es einer Familie erleichtern zu partizipieren, und welche es ihnen erschweren. Erste Forschungsresultate erwarten wir im Jahr 2025.
Franziska Spreitler, der erste erwähnte Forschungsbereich betrifft die Entwicklung von Assessments. Weshalb sind diese im klinischen Alltag so gefragt?
Franziska Spreitler: Weil die Kinder, die bei uns in Behandlung sind, unterschiedliche therapeutische Ziele haben. Um die Fortschritte für die Kinder und ihre Familien, aber auch für die Krankenkasse oder IV zu dokumentieren, benötigen wir spezifische Tests. Oft erhält die Forschung eine Anfrage von den Therapeut:innen, neue Assessments zu entwickeln oder vorhandene auf Deutsch zu übersetzen. Letztendlich definieren wir mit unseren Assessments aber auch eine gemeinsame Sprache zwischen den verschiedenen Professionen, deshalb sind sie auf unserer Webseite für alle frei zugänglich.
Kommen wir zum zweiten Bereich, den Rehabilitationstechnologien. Bei der Entwicklung roboterunterstützter Therapien arbeiten Sie oft eng mit betroffenen Kindern und deren Familien zusammen. Wie funktioniert das konkret?
Hubertus van Hedel: Beim Projekt mit der VR-Brille beispielsweise (siehe unten) war es das Ziel, eine Technologie zu entwickeln, mit der das Kind für sich wichtige Tätigkeiten üben kann, ohne sich zu langweilen, weil es sich in spannenden Szenarien bewegt. Die Post-Doktorandin Corinne Ammann interviewte dafür Jugendliche und Eltern und fragte sie, in welchen Situationen den Betroffenen das Gehen Schwierigkeiten bereitet. Anhand der Antworten entwickelte sie erste spielerische Szenarien. Das ist ein gutes Beispiel. Künftig möchten wir die Betroffenen aber noch viel früher in Projekte involvieren.
Wie denn?
Hubertus van Hedel: Aktuell erstellen wir ein Register mit Personen, die gewillt sind, uns in unserer Forschung zu unterstützen. Wir wollen die Forschung für die Betroffenen noch relevanter machen, und das erreichen wir nur, wenn wir bereits bei der Formulierung der Forschungsfrage deren Meinung einholen.
Welche Vorteile hatte die Zusammenarbeit mit Betroffenen bei der Softwareentwicklung für die VR-Brille?
Hubertus van Hedel: Wir wurden von einigen Forschungsergebnissen überrascht. Hier ein Beispiel: Wir zogen anfangs zwei unterschiedliche Brillen-Typen in Betracht. Einerseits eine Augmented-Reality-Brille, mit der man seine reale Umgebung erkennt, man aber virtuelle Objekte oder Tiere einfügen kann; andererseits eine Virtual-Reality-Brille, mit der man in eine komplett virtuelle Umgebung eintaucht. Weil viele unserer Patient:innen ihre Beine nicht spüren, gingen wir davon aus, dass sie die Virtual-Reality-Brille überfordert. Dem war aber nicht so. Sie konnten sehr gut mit der virtuellen Welt umgehen und fanden sie sogar viel spannender. Das hätten wir so nicht erwartet.
Kann die VR-Brille bereits als Therapie-Instrument genutzt werden?
Hubertus van Hedel: Aktuell noch nicht. Wir haben zwar bereits Studien gemacht, was denn konkret mit dieser VR-Brille trainiert werden könnte. Dabei haben wir herausgefunden, dass diese Methode für einige Therapieziele durchaus grosses Potenzial hat. Bis wir die VR-Brille unabhängig von Forschungsprojekten für die Therapie nutzen können, ist es aber noch ein langer Weg mit hohen, administrativen Hürden.
Wie lange dauert es insgesamt, bis eine Forschung in die Praxis kommt, angefangen von einer Idee bis hin zum Einsatz in der täglichen Therapie?
Franziska Spreitler: Je nach Projekt können da durchaus Jahre vergehen, vor allem dann, wenn die Idee neuartig ist.
Den Mini-Explorer (siehe Beispiel unten), haben Sie neu angeschafft. Was ist daran für die Forschung spannend?
Franziska Spreitler: Forschungsarbeiten zeigen, je früher Kinder mit schweren Behinderungen eigeninitiiert mobil sind, desto besser können sie sich entwickeln. Man geht davon aus, dass Mobilität insbesondere bei der kognitiven und visuellen Entwicklung, aber auch für die räumliche Wahrnehmung eine Rolle spielt. Daher ist es wichtig, den Kindern früh eine selbstständige Exploration ihrer Umwelt zu ermöglichen. Aktuell setzen wir den Mini-Explorer in der Reha für Kinder im Alter zwischen ein und drei Jahren ein und sammeln klinische Erfahrung, die später für die Forschung relevant sein kann.
Das Wissen geht quasi den umgekehrten Weg, also von der Praxis in die Forschung?
Hubertus van Hedel: Das kann man so sagen. Mir ist es wichtig, dass unsere Therapeutinnen und Therapeuten zuerst praktische Erfahrungen mit der Technologie sammeln, bevor wir damit beginnen, sinnvolle wissenschaftliche Fragen zu formulieren. Es geht auch darum, in der Praxis festzustellen, wieviel Unterstützung es in der Anwendung braucht, wie robust das Gerät ist und welche Kinder gut auf den Gebrauch ansprechen. Der Mini-Explorer wäre für uns künftig ein spannendes Gerät, um Forschung zu betreiben.
Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, welche Forschungsprojekte durchgeführt werden?
Hubertus van Hedel: Generell steht der klinisch-therapeutische Wunsch etwas zu untersuchen im Mittelpunkt. Das heisst, die Forschungsfrage muss für die Klinik und unsere Patient:innen relevant sein. Auch muss das Thema im Kompetenzbereich unseres Teams passen. Praktisch gesehen, muss das Projekt aber auch attraktiv für Geldgeber sein, welche gewillt sind, das Projekt finanziell zu unterstützen, da die ganze Forschungsgruppe aus Drittmitteln finanziert wird. Stehen Forschungsfrage und Finanzierung, müssen wir zahlreiche administrative Aufgaben erledigen, dazu gehört etwa das Einholen der Zustimmung der Ethikkommission. Erst wenn all diese Dinge erfüllt sind, können wir tatsächlich mit der Durchführung des Forschungsprojekts loslegen.
Wie gelingt es, dass das Wissen aus der Forschung den Weg zurück in den Klinikalltag findet?
Franziska Spreitler: Unser Vorteil ist, dass wir eng miteinander arbeiten. Bei den Forschungen zu neuen Technologien beispielsweise, können wir die Ergebnisse relativ einfach in die Praxis einfliessen lassen, weil die Leute, die bei uns in den technischen Projekten forschen, oft dieselben sind, die mit den Geräten auch therapeutisch arbeiten. Was ebenfalls gut funktioniert ist, wenn die Therapeut:innen Forschungsaufträge oder Ideen geben – dann wenden sie die Resultate schliesslich auch wirklich an. Dennoch gestaltet sich die Integration von Forschungsergebnissen auch in einer universitären Klinik schwierig: Die Forschung muss abgestimmt sein auf die tatsächliche Klientel, die Therapeut:innen benötigen Zeit, sich mit den Ergebnissen auseinander zu setzen und müssen bereit sein, ihre Routinen auf die neuen Erkenntnisse anzupassen.
Weshalb wird an Therapien für kleine Kinder mit sehr schweren, mehrfachen Behinderungen vergleichsweise wenig geforscht?
Franziska Spreitler: Forschung in diesem Bereich ist relevant, gestaltet sich aber tatsächlich schwierig. Je schwerer betroffen Kinder sind, desto diverser sind ihre Symptome und desto weniger können wir vergleichbare Gruppen für die Forschung bilden. Zudem ist es schwierig, den Erfolg zu messen, da diese Kinder oft mehrere Therapien gleichzeitig erhalten und die Fortschritte klein sind. In der Praxis haben wir hingegen viel Erfahrung in der Behandlung schwer betroffener Kinder. Sie werden bei uns individuell therapiert. Letztendlich führt die Auswahl individuell angepasster, spezifischer Massnahmen zu einer Verbesserung der Lebensqualität jedes einzelnen Kindes.
Interview: Regula Burkhardt
Fotos: ©Kinderspital Zürich/Valérie Jaquet
Kinder-Reha Schweiz
In der Kinder-Reha Schweiz werden Kinder und Jugendliche behandelt und betreut, die mit den Folgen von angeborenen oder erworbenen Krankheiten oder Verletzungen leben. Die Forschungsabteilung vereint Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Fachrichtungen, um die pädiatrische Rehabilitation weiterzuentwickeln. Sie hat ihren Standort in Affoltern am Albis ZH und gehört zum Universitäts-Kinderspital Zürich – Eleonorenstiftung.
www.kispi.uzh.ch/kinder-reha
Fokus: Fortschritt
Training in virtuellen Welten
Das Forschungsteam der Kinder-Reha Schweiz hat eine App entwickelt, mit der Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung oder Verletzung mit Hilfe einer Virtual-Reality-(VR)-Brille das Gehen trainieren können – unter anderem in einem virtuellen Märchenwald.
Fokus: Fortschritt
Früh mobil mit dem Mini Explorer
Mit dem Mini Explorer ist es kleinen Kindern mit Mobilitätseinschränkungen möglich, sich selbstbestimmt zu bewegen. Ein Bericht aus der Kinder-Reha Schweiz.
Fokus: Fortschritt
Neues Klassifikationssystem bei Sehstörungen
Spezifische Klassifikationssysteme sind wichtig, um Kinder mit adäquaten Hilfsmitteln zu unterstützen und die Fortschritte in der Reha zu dokumentieren. Die Kinder-Reha Schweiz arbeitet aktuell an der Übersetzung eines neuen Klassifikationssystems bei Sehstörungen.
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