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Fokus: Erziehung

Mit Struktur und Geduld zum Ziel

Wie ist es, junge Menschen im Autismus-Spektrum zu fördern und zu erziehen? Im Internat in Menzingen, einem Angebot von «Verhalten Plus» des heilpädagogischen Schul- und Beratungszentrums Sonnenberg, leben sechs Schüler mit Autismus. Teamleiter Mauro Kuny gibt Einblick in deren Alltag.

Mit Struktur und
Geduld zum Ziel

Wie ist es, junge Menschen im Autismus-Spektrum zu fördern und zu erziehen? Im Internat in Menzingen, einem Angebot von «Verhalten Plus» des heilpädagogischen Schul- und Beratungszentrums Sonnenberg, leben sechs Schüler mit Autismus. Teamleiter Mauro Kuny gibt Einblick in deren Alltag.

Wenn der Duft von frischem Toast oder eine Änderung im Terminplan bei Jugendlichen zu Gefühlsausbrüchen führt, ist bei den Betreuerinnen und Betreuern im Internat Menzingen nicht nur Fachwissen, sondern auch Fingerspitzengefühl gefragt. Denn hier leben Kinder und Jugendliche im Autismus-Spektrum. Sie sind zwischen 9 und 18 Jahre alt. Das Internat gehört zum Angebot «Verhalten Plus» des Heilpädagogischen Schul- und Beratungszentrums SONNENBERG, Baar. Momentan sind es sechs, ausschliesslich männliche, Schüler, welche von Montag bis Freitag im Internat leben und auch ihre Freizeit vor und nach der Schule dort verbringen.

Strukturen schaffen und sich daran orientieren

«Warum sitzen wir heute alle an einem Tisch?» Laut und vorwurfsvoll schreit der Jugendliche bereits vor 7 Uhr durch die Gänge des Internats, als er das Morgengedeck sieht. Ihm fällt sofort auf, dass an diesem Morgen etwas anders ist als gewohnt. Der Betreuer erklärt ihm, dass heute zwei Schüler weniger vor Ort sind und dadurch alle an einem Tisch sitzen können. Doch das stellt den jungen Mann nicht zufrieden. Aufgrund seiner Beeinträchtigung und des damit verbundenen eingeschränkten Einfühlungsvermögens ist es für den Jugendlichen nicht relevant, ob ein Schüler allein sitzen muss oder nicht. Ein weiteres Argument wird benötigt. Deshalb erklärt der Betreuer, dass aufgrund der Abwesenheiten heute nur eine Betreuungsperson das Frühstück begleitet und gemäss den anerkannten Strukturen jeweils eine betreuende Fachperson für einen Tisch zuständig ist. Daher müssen alle Jugendlichen am selben Tisch sitzen. Jetzt sagt der Betreuer: «Sonst müsste ich mich teilen.» Der Schüler lacht. Diese Begründung sitzt. Nun kann das Frühstück beginnen.

Diese und ähnliche Situationen sind für die Betreuerinnen und Betreuer auf der Wohngruppe des Angebots «Verhalten Plus» keine Ausnahme. Im täglichen Umgang mit den Schülern braucht es Struktur, Regeln und viel Fingerspitzengefühl. Denn die beschriebene Situation birgt Potenzial für eine Krise, die sich durch den ganzen Tag ziehen könnte.

Raumwechsel: ein probates Mittel

Als die Situation aufgrund der ungewohnten Sitzordnung geklärt ist und mit dem Frühstück begonnen wird, reihen sich die Jugendlichen vor dem Toaster ein. Dabei kommt es zu Unstimmigkeiten und Missverständnissen. Einem Schüler ist es aufgrund seiner autistischen Veranlagung nicht möglich, zwischen Menschen zu stehen. Daher verlässt er die Formation. Dies kommt bei den anderen nicht gut an und gestaltet sich im Stau auch eher schwierig.

Die überempfindliche Wahrnehmung, welche mit einer Autismus-Spektrum-Störung einhergeht, führt bei einem anderen Jugendlichen zu einer zusätzlichen Herausforderung: das bereits getoastete Brot brennt ihm wie Schwefel in der Nase. Ein Dritter wirft einem anderen Schüler vor, er habe sein Brot «stibitzt», und schon wird es wieder brenzlig. Der Betreuer greift ein und entschärft die Situation mit der Anordnung, dass per sofort nur einer beim Toaster stehen darf.

Zu einem späteren Zeitpunkt beraten die Betreuerinnen und Betreuer im Team, wie eine für alle akzeptable Lösung rund um den Toaster aussehen könnte, dies selbstverständlich in Absprache mit den Jugendlichen. Die Lösung: Es darf weiterhin nur eine Person am Toaster stehen und der Toaster wird in einem anderen Raum platziert. Der Raumwechsel, ob von Materialien oder Personen, ist ein probates Mittel und – im Vergleich mit anderen pädagogischen Massnahmen – eine einfach umzusetzende Möglichkeit, um Situationen mit Krisenpotenzial zu entschärfen. Reizarme Räume sind dabei von grossem Vorteil.

Im Werkunterricht fertigen die Jungs einen Sternenhimmel an,
inklusive Beleuchtung für den Ruheraum.

Toleranz, Verständnis und Entschlossenheit

Nachdem sich die Schüler für die Schule fertig gemacht haben, geniessen sie noch etwas Freizeit. Das heisst, sie spielen ein Spiel, hören Radio oder lassen Altpapier durch den Schredder. Danach gehen sie in den Unterricht. Jeder für sich, selten zu zweit. Am Mittag kommen dann die ganz unterschiedlichen und speziellen Esscharakteren zum Vorschein: Die einen mögen alles separat, am besten auf zwei Tellern. Manche wollen mit Sauce, andere ohne Sauce, die dritten Sauce separat. Dann auch ohne Käse, viel Käse, Messer nur mit spitziger Form, Gabel ohne Furchen, Wasser kalt, Wasser warm, Brot mit Gemüse, scharf, unscharf, zu scharf…

Um mit so vielen Anforderungen professionell umgehen zu können, braucht es von den betreuenden Fachpersonen die richtige Prise Toleranz, grosses Verständnis und oftmals auch viel Entschlossenheit. Es braucht Toleranz und Verständnis gegenüber den Eigenheiten aufgrund der autistischen Veranlagung, andererseits aber auch Entschlossenheit, störende, nicht autistisch bedingte Verhaltensweisen nicht zu akzeptieren und gemeinsam mit den Jugendlichen daran zu arbeiten. Gerade in dieser Hinsicht sind auch regelmässige Kontakte zu den Erziehungsberechtigten sowie die Zusammenarbeit mit der Schule von grosser Bedeutung.

Vorbereitung auf neue Situationen

Die Nachmittage im Internat sind inhaltlich mit verschiedenen Ateliers ausgestaltet. Dazu zählen Bauernhof besuche, Kunst und Gestalten oder Turnen und Schwimmen. Am heutigen Mittwoch ist, nach dem Sport, ein Besuch im Jugendtreff in Menzingen geplant. Die Jugendlichen wurden bereits am Montagabend darüber informiert und wissen, um welche Uhrzeit sie den Jugendtreff besuchen, wann sie zurück gehen und wann sie zu Abend essen werden. Bei der Ausflugsplanung und bei Zeitangaben ist es immer wichtig, darauf hinzuweisen, dass es unter Umständen auch ein bisschen später werden oder auch mal früher sein kann. Das Wort «vielleicht» hilft dabei, sich nicht auf die Sekunde genau festlegen zu müssen. Denn Menschen im Autismus-Spektrum nehmen das Gesprochene oft wörtlich, demnach ist jede Zeitangabe streng verbindlich und kann bei Nichteinhaltung zu kleineren oder manchmal grösseren Auseinandersetzungen führen.

Im Jugendtreff angekommen, wartet ein Schüler lieber draussen und liest ein Buch, zwei spielen mit anderen Jugendlichen aus Menzingen auf der Playstation und ein weiterer möchte mit den Begleitpersonen Billard spielen. Auf dem Rückweg plaudern die Jungen über das Erlebte. Während der Schüler, der draussen gelesen hat, meint, es sei «total langweilig» gewesen, möchte ein anderer Jugendlicher gleich morgen wieder hingehen. Ob das passt, bespricht das Team später mit den Schülern. Am Abend beschäftigen sich die Jugendlichen dann meist allein oder zu zweit.

Individuelle Entwicklung fördern

Die Charaktere der Personen im Autismus-Spektrum unterscheiden sich sehr stark. Was sie jedoch alle gemeinsam haben, ist die intensive und teils ungefilterte Wahrnehmung ihrer Umwelt. Unserer Erfahrung nach ist es hilfreich und wichtig, den Alltag von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung klar zu strukturieren, Vorhersehbarkeit zu schaffen und stets einen Plan B zu haben. Dabei gilt es aber immer, die individuellen Fähigkeiten zu berücksichtigen, denn zu viele respektive zu enge Strukturen verhindern wiederum die individuelle Entfaltung und Weiterentwicklung. So hat es Gee Vero
(deutsche Künstlerin und Autorin im Autismus-Spektrum) einmal sehr treffend ausgedrückt: «Es gibt wohl so viele autistische Formen, wie es Menschen mit Autismus gibt.»

Text: Mauro Kuny, Sozialarbeiter Soziokultur mit Teamleitung Wohnen, «Verhalten
Plus» Heilpädagogisches Schul- und Beratungszentrum SONNENBERG
Fotos: ©Grether Photography

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