Mein Sohn hat durchaus
etwas zu sagen!
Zu wissen, was das eigene Kind denkt, fühlt oder haben möchte, ist für Marianne Wüthrich nicht selbstverständlich. Sie arbeitet denn auch hartnäckig und mit kreativen Methoden daran, dass sich ihr Sohn mit seinem Sprachcomputer mitteilt. Umso besser, wenn dabei ein Ausflug zum Markt herauskommt!
Leben mit Max & seiner Schwerhörigkeit heisst, immer wieder Dinge zu hinterfragen, mit neuen Augen zu betrachten und sich bewusst zu werden, für wie selbstverständlich wir vieles nehmen. Sprechen, verbale Kommunikation, ist auch so ein Ding. Natürlich weiss ich, dass es manchmal im Leben Situationen gibt, in denen es für diese verbale Kommunikation noch zusätzlich Hände und Füsse braucht, damit sie gelingt. Bis zu Max’ Ankunft kannte ich diese Herausforderung allerdings nur von Reisen in ferne Länder, mit Sprachen, die ich nicht verstehe, nicht spreche. Das war ja jeweils auch ganz spannend, gehörte zu ebendiesen Reisen und Abenteuern dazu. Wenn es plötzlich den ganzen Alltag betrifft, fühlt es sich jedoch anders an.
Weder Gebärden- noch Lautsprache
Max zeigte schon kurz nach der Geburt wenig typische Reaktionen auf Geräusche oder Lärm, auch lautierte er kaum. Diagnose: hochgradige Schwerhörigkeit, wenig Resthörvermögen. Mit zirka zwei Jahren bekam Max seine ersten Hörgeräte, denn ein Spracherwerb ist ja fast nur möglich, wenn man eine Sprache auch hört. Wir protokollierten Hörreaktionen, versuchten zu verstehen, ob etwas zu laut ist, schrieben auf, was und welche Laute Max von sich gab. Dazu kam nebst der Heilpädagogischen Frühförderung auch eine Audiopädagogische Therapie, wir lernten Gebärdensprache.
Immer wieder überraschte Max uns mit Reaktionen, die uns bestätigten, dass er uns durchaus verstand. Er selbst benutzte weder Laut- noch Gebärdensprache, er blieb stumm. Immerhin begann er, nonverbal gezielter zu agieren, zeigte auf Dinge, die er haben wollte, oder nahm uns an der Hand, wenn er etwas auskundschaften wollte. Irgendwann hiess es: «Sie wissen ja, dass Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) sich schwertun mit Kommunikation.» Nein, das wussten wir nicht, weil wir diese Diagnose so noch nicht gehört hatten. Ja, Max zeigte manchmal ASS-ähnliche Verhaltensmuster, aber so klar hatte das bis zu diesem Zeitpunkt nie jemand benannt. Nun hatten wir noch mehr Fragen und immer noch das Bedürfnis, unser Kind besser zu verstehen und ihm auch die Möglichkeit zu geben, selbstbestimmt zu sagen, was es braucht, will, fühlt. Max hat, auch wenn er nonverbal ist, durchaus etwas zu sagen. Weil er dies nicht tut, wird er oft unterschätzt oder es wird angenommen, dass er eben nichts zu sagen oder keine eigene Meinung hat.
Computer brachte Fortschritte
Nebst Gebärden haben wir auch immer wieder mit Piktogrammen gearbeitet und schnell bemerkt, dass Max diese gut versteht, aber auch da wenig von sich aus macht. Also mussten Situationen her, die ihn zum Kommunizieren zwangen. Das war gar nicht so einfach. Essen ging nicht, denn Max ass wenig, musste gefüttert werden und zeigte ausser für Brei kein Interesse. Spielsachen nahm er, wies grad kam.
Mit der Einschulung entschieden wir uns für ein elektronisches Kommunikationsgerät. Heute kommuniziert Max mit uns über seinen Computer. Wir müssen noch immer versuchen, ihn in Situationen zu bringen, in denen er uns etwas mitteilen muss. Auch damit er sieht, dass etwas passiert, wenn er sich die Mühe macht, uns etwas zu sagen. Eine Weile war es die Farbe vom Licht im Wohnzimmer. Er wollte immer die gleiche Farbe haben und wusste, dass er dazu die Fernbedienung braucht. Also wollte er diese haben, wenn wir die falsche Farbe einstellten. Das funktionierte gut, die Fernbedienung war weggesperrt und nur auf Frage seinerseits verfügbar, damit er die Farbe wechseln konnte. Lange blieb es bei einzelnen Worten.
Kreativ und beharrlich bleiben
Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, dass das Gerät allein für eine erfolgreiche Kommunikation noch nicht reicht. Ähnlich wie wenn ich mir das Fremdsprachenwörterbuch auf den Tisch lege: davon allein kann ich die Sprache leider noch nicht. Also müssen wir modellieren, Max immer wieder Wörter zeigen, manchmal auch Fotos von ganz bestimmten Dingen erfassen. Teilweise bleiben es Monate lang die gleichen vier bis fünf Wörter und wir fragten uns immer wieder, ob das noch was wird. Lange war Max leider auch in seinem schulischen Umfeld der Einzige mit Computer. In den letzten zwei Jahren hat sich das geändert und Max wird nun intensiv gefördert. Mittlerweile schafft er es, gezielter Bedürfnisse zu äussern.
Zwischenzeitlich ist es oft Essen, das er klar benennen und einfordern kann. Wenn er in den Ferien plötzlich «Badehose» und «duschen» wählt, weil er weiss, dass es das braucht, um im Pool zu schwimmen, dann bin ich noch so gern mit von der Partie. Dieser Tage meinte er «Sandalen» und ich musste nachfragen, wohin er denn wolle. «Markt», kam auf meine Frage zurück, und «Brokkoli». Wo immer möglich versuchen wir dann, seine Wünsche umzusetzen, damit er immer wieder Bestätigung erfährt. Die Kommunikation mit Max ist dank dem Computer einfacher geworden. Die Blicke bleiben aber betroffen, wenn ich anderen sage, dass mein Sohn nicht spricht. Dafür kann er Überraschungen mitplanen oder Geschenke einkaufen: er plaudert es ganz sicher nicht aus! Und wenn jemand im Laden neben mir «Scheixxx» sagt und sich sofort fürs schlechte Vorbild entschuldigt, dann lach ich nur und finde: «Selbst wenn das sein erstes gesprochenes Wort sein sollte, ich würde es feiern!»
Text und Fotos: Marianne Wüthrich
Marianne Wüthrich
Autorin und Präsidentin der Stiftung visoparents
In dieser Kolumne schreibt sie über ihren Alltag mit Max (17) und den Zwillingen Tom und Leo (14). Max ist infolge des Charge-Syndroms mehrfach behindert und im Autismus-Spektrum.