«Ich werde immer ein
Steinchen Trauer
in mir tragen»
Janine Hächler weiss, was Trauern heisst. Nicht nur, weil sie ausgebildete Trauerbegleiterin ist. Sondern auch aus eigener Erfahrung. Drei ihrer vier Kinder musste sie weiterziehen lassen: Ihre eineiigen Zwillingsmädchen Jill und Linn verlor sie in der 27. Schwangerschaftswoche des fetofetalen Transfusionssyndroms wegen, Shayen starb mit 8 1/2 Monaten am Schinzel-Giedion-Syndrom in den Armen ihrer Eltern.
Janine Hächler (50) ist gelernte Pflegefachfrau und bildete sich in Sterbe- und Trauerbegleitung weiter. Sie hat in Akutspitälern, in der Erwachsenenpsychiatrie und im Frauenhaus gearbeitet. Heute ist sie in der ambulanten psychosozialen Beratung tätig und engagiert sich als Stiftungsrätin bei Pro Pallium. Dort leitet sie die Trauergruppe wie auch beim Verein Regenbogen und beim Verein Familientrauerbegleitung. Sie lebt mit ihrer Tochter Juno (11) in Zürich.
Janine Hächler, Sie haben drei Kinder verloren. Wie überlebt man das?
Janine Hächler: Mit Hoffnung, Liebe und Mut. Die ersten Monate waren jedoch sehr schwierig. Voller Schmerz und Trauer. Aber ich war immer ein lebensfroher Mensch, der das Leben gut und schön fand. Und ich wollte wieder zurück ins Leben, wollte wieder lachen können. Meine Lebensmotivation waren oft meine Kinder. Die Liebe zu ihnen hat mir Kraft gegeben – und Mut. Denn, glauben Sie mir, es braucht Mut, nach einem schweren Schicksalsschlag jeden Morgen aufzustehen, sich dem Alltag zu stellen und Ja zu sagen zum Leben. Und noch mehr Mut, sich wieder freuen zu können, wieder glücklich sein zu dürfen.
Wie haben Sie das geschafft?
Indem ich mich meiner Trauer stellte, mich meinen Gefühlen voll hingab. Von Anfang an. Ich habe mich nie geschämt, zu weinen oder über meine Verlorenheit zu reden. Zudem hatte ich viel Unterstützung von Familie und Freund:innen. Zugegeben: Der Verlust von Shayen hat mich nochmal richtig zu Boden geworfen. Ich wusste allerdings aus Erfahrung, dass das Leben nach dem Verlust eines Kindes weitergehen und wieder gut werden kann. Anders, und trotzdem gut.
Hört die Trauer jemals auf?
Sie wird weniger. Weg geht sie wohl nie ganz. Ich hätte meine Kinder lieber bei mir. Darum werde ich immer ein Steinchen Trauer in mir tragen. Und sie packt mich immer mal wieder. Manchmal ganz ohne Vorwarnung, wie ein Tsunami. So kann es sein, dass ich heulend im Tram sitze, weil mich eine Erinnerung getriggert hat – ein Wort, ein Geruch oder ein Tag.
Weihnachten oder Geburtstage zum Beispiel?
Genau. All die Tage, die mit Kindern schön(er) sind, sind besonders herausfordernd für verwaiste Eltern – genauso wie der Todestag.
Ist das auch für jene so, die ihr Kind während der Schwangerschaft weiterziehen lassen mussten?
Ja. Wenn man schwanger ist, hat man an Festtagen wie Weihnachten gewisse Vorstellungen davon, wie es ist, wenn das Kind an diesen Tagen da ist – sieht es neben dem Tannenbaum Geschenke auspacken. Dass nach seinem Tod nichts so ist, wie man es sich gewünscht hat, ist schwierig – vor allem am Anfang. Darum sagt man im Allgemeinen auch, dass das erste Trauerjahr besonders schwierig und schmerzhaft ist. Das war bei mir so – bei den Zwillingen und bei Shayen.
Warum ist das so?
Alles, was man das erste Mal anders erlebt als erwartet oder gewohnt, ist schwierig. Das macht Angst und unsicher, überfordert die meisten.
Was hilft in solchen Momenten?
Eine gute Struktur, ein Plan sind hilfreich – und Rituale. Mit dem Tod eines Kindes ist man gezwungen, es physisch loszulassen. Die Verbundenheit mit ihm und die Liebe zu ihm leben aber weiter. Viele haben trotzdem Angst, ihr verstorbenes Kind irgendwann zu vergessen. Rituale sind eine Möglichkeit, seiner zu gedenken und die Beziehung mit ihm aktiv zu gestalten und weiterzuführen.
Wie sehen diese Rituale aus?
Das ist sehr individuell und hängt von verschiedenen Faktoren ab – ob man andere Kinder hat, welcher Religion man angehört und davon, ob man sein Kind während der Schwangerschaft oder erst später weiterziehen lassen musste und Traditionen hatte. Die kann man weiterführen, wenn man möchte; ihm zum Beispiel an Geburtstagen oder Weihnachten ein Geschenk kaufen und es zum Gedenkort bringen. Oder man spendet in seinem Namen Geld an eine Organisation, die einen unterstützt hat. Es gibt viele Möglichkeiten.
Muss man Rituale planen?
Man sollte sich auf jeden Fall als Familie überlegen, wie und ob man Weihnachten oder andere Festtage feiern will, vor allem im ersten Jahr. Es gibt beispielsweise Leute, die lieber in die Berge fahren oder wegfliegen, weil sie Zeit für sich brauchen. Dieses Flüchten ist legitim. Hilfreich ist, wenn man auch das Umfeld wissen lässt, wie und wo man die Festtage begehen möchte – oder eben nicht.
Offene Kommunikation ist also das A und O.
Ja. Je konkreter die betroffene Familie weiss, was sie möchte, desto eher können sich Freund:innen und Familie darauf einstellen und entscheiden, ob sie sich darauf einlassen wollen, mit Trauer konfrontiert zu sein. Im besten Fall haben sie Verständnis dafür, dass es anders sein wird als die Jahre vorher. Als Betroffene:r muss man lernen, mit verletzenden Reaktionen wie Absagen umzugehen.
Welche Rituale haben Sie?
Wir schmücken den Baum mit Kerzen und Weihnachtsschmuck, schneiden einen Zweig ab und bringen ihn aufs Grab. Diese Lücke, die Linn, Jill und Shayen hinterlassen, ist so im geschmückten Baum sichtbar. Der Zweig auf dem Friedhof schafft eine Verbindung zu ihnen und zeigt: «Hey, ihr seid in Gedanken bei uns, hinterlasst eine Lücke. Und ihr fehlt uns. Trotzdem feiern wir diese Weihnachten. Und wir reden über euch – und dürfen traurig sein, unseren Tränen freien Lauf lassen und euch unsere Liebe so zeigen.»
Wie haben Sie Festtage mit Shayen gefeiert?
Shayens Behinderung war schwerwiegend. Dadurch waren wir von Anfang an damit konfrontiert, dass wir ihren ersten Geburtstag wohl nicht mit ihr würden feiern können. Ich erinnere mich, dass an Weihnachten mit ihr bei mir schon der Gedanke mitschwang, dass sie das folgende Jahr vielleicht nicht mehr dabei sein würde. Aber weil wir ahnten, dass sie uns nicht lange begleiten würde, haben wir jeden Monat gefeiert, den wir mit ihr erleben durften. Mit Torte, Gästen und Singen.
Raten Sie das auch anderen Eltern, die wissen, dass sie in naher Zukunft Abschied nehmen müssen?
Wichtig ist, dem Kind eine möglichst schmerzfreie und schöne Zeit zu ermöglichen. Eltern sollten die Zeit, die sie mit dem Kind noch haben, intensiv und bewusst leben, nichts als selbstverständlich ansehen und im Wissen, dass das Kind irgendwann nicht mehr da ist, möglichst viele Erinnerungen sammeln.
Stiftung Pro Pallium
Pro Pallium ist eine gemeinnützige spendenfinanzierte Stiftung, die in der ganzen Deutschschweiz tätig ist. Sie entlastet, begleitet und vernetzt Familien mit lebenslimitiert erkrankten Kindern individuell, flexibel und kostenlos. Dabei geht sie auf die Bedürfnisse der Familien ein und achtet die Eltern als Fachpersonen für die Belange ihrer Kinder.
www.pro-pallium.ch
Also möglichst viel mit ihm unternehmen?
Wie die verbleibende Lebenszeit aussieht, hängt von der Schwere der Behinderung oder Krankheit ab – und nicht zuletzt davon, wie viel Zeit die Eltern nebst der Arbeit haben. Bleibende Erinnerungen wie Fotos und Videos oder Abdrücke von Fingern, Füssen oder Babybauch zu kreieren, ist sehr wertvoll. Wichtig ist zudem, Freund:innen und Familie einzubeziehen, damit sie am Abschiedsprozess teilnehmen können, wenn sie möchten. Denn es ist ungemein schön und tröstlich, wenn man sich im Nachhinein über diese gemeinsame Zeit austauschen kann.
Apropos: Wie kann man trauernde Eltern unterstützen?
Indem man sie längerfristig unterstützt. Für viele ist die unausgesprochene Erwartung da, dass es irgendwann wieder gut sein muss. Doch für verwaiste Eltern ist es nie ganz gut. Und dann ist es wunderbar, wenn man durch eine kleine Geste oder ein offenes Ohr merkt, dass jemand da ist. Man kann die Familie auch fragen, was sie braucht, immer wieder. Oder man googelt – wie bei allem anderen heute. Bei «Hilfreiches Verhalten im Umgang mit Eltern nach Kindsverlust» kommen viele hilfreiche Dos and Don’ts.
Welches ist das grösste Don’t?
Tod ist nach wie vor ein Tabuthema bei uns. Und weil wir den Umgang mit dem Tod weder in der Schule noch sonst wo lernen, sind viele überfordert, wenn sie mit Trauer konfrontiert sind. Darum haben viele Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu tun, und meiden einen. Dabei ist alles besser, als gar nichts zu sagen, als nichts zu tun.
Buchtipps von Janine Hächler
Hilf mir, wenn ich traurig bin
Jule Kienecker,
Mechthild Schroeter-Rupieper
CHF 31.90
Ein Buch zum Trauern, Erinnern und Abschiednehmen –
auch mit Kindern.
Für immer anders
Mechthild Schroeter-Rupieper
CHF 37.90
Das Hausbuch für Familien in Zeiten der Trauer und des
Abschieds.
Um Kinder trauern
Anja Wiese
ab CHF 7.-
Eine Mutter zeigt Betroffenen Wege, ihren seelischen Schmerz zu verarbeiten. (Erfahrungsbericht)
Lasst mich weinen
Martin Janssen
ab CHF 2.-
Ein Vater berichtet über seine Trauer. (Erfahrungsbericht)
Trauern
Verena Kast
CHF 31.90
Ein Ratgeber für Trauernde
Interview: Michaela Ruoss Fotos: Susanne Keller, SDV, Michaela Ruoss
Foto: © Susanne Keller, SDV
Wo Sie Hilfe finden
Unterstützung für Familien, die ein Kind verloren haben:
Selbsthilfegruppen beim Verein Regenbogen Schweiz
www.verein-regenbogen.ch
Information, Hilfe und Beratung
www.kindsverlust.ch
Familientrauerbegleitung
www.familientrauerbegleitung.ch
Hilfe für trauernde Geschwister
www.lifewith.ch