«Eine Diagnose ist
auch immer ein
Türöffner»
Was bedeutet eine Autismus-Diagnose für ein Kind? Bei welchen Anzeichen sollte man es abklären lassen? Christine Kuhn ist Psychiaterin und Spezialistin für Autismus. Sie erklärt, weshalb Eltern ein Kind bei einem Verdacht möglichst frühzeitig abklären lassen sollten und weshalb sie sich nicht vor der Diagnose fürchten müssen.
Dr. med. Christine Kuhn arbeitet in eigener Praxis als Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Sie führt jährlich rund 40 umfassende Abklärungen durch. Zuvor war sie als Oberärztin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Ambulatorium Wetzikon tätig. Kuhn ist zudem klinische Dozentin an der Universität Zürich und arbeitet an diversen Forschungsprojekten zur digital gestützten Diagnostik im kinderpsychiatrischen Bereich mit. Unter anderem war sie
am Aufbau von www.youthinmind.com beteiligt.
www.christinekuhn.ch
Christine Kuhn, um Klarheit darüber zu haben, ob ein Kind im Autismus-Spektrum ist, braucht es eine offizielle Diagnose. Allerdings zweifeln Eltern manchmal, ob sie ihr Kind überhaupt ärztlich abklären lassen sollen. Wann sollten sie es doch tun?
Christine Kuhn: Eine Abklärung ist immer dann angezeigt, wenn die Teilhabe an der Gesellschaft nicht gelingt. Das kann etwa sein, wenn das Kind Probleme in der Schule oder Spielgruppe hat, es immer ausgeschlossen wird, andere Kinder schlägt oder öfters von anderen gemobbt wird. Auch sollte man ärztlichen Rat einholen, wenn es sich sprachlich oder kognitiv nicht wie die anderen entwickelt.
Bei welchen Verdachtsmomenten sollten Eltern an Autismus denken?
Kinder mit schweren kognitiven Entwicklungsproblemen werden in der Regel von Kinderärzt:innen erkannt. Als Eltern kann man darauf achten, ob das Kind Blickkontakt sucht, lacht, gerne kuschelt, sich sprachlich gut entwickelt und interagiert. Wir wissen, dass bereits Neugeborene stark auf die Gesichter von anderen Menschen reagieren. Kinder mit Autismus tun das in der Regel weniger. Sie interessieren sich eher für die Spieluhr, die sich dreht. Für Eltern ist es aber oft schwierig, Autismus zu erkennen, weil sie gut mit dem Kind eingespielt sind.
Manche Eltern haben Angst, dass ihr Kind durch eine Diagnose stigmatisiert wird.
Eine Stigmatisierung kann tatsächlich nicht ausgeschlossen werden. Allerdings ist ganz allgemein die Behinderung, also das Abweichen von der Norm, in unserer Gesellschaft immer noch ein Problem. Wenn man dem aber anhand einer Diagnose einen Namen gibt, ist das der erste Schritt zu einer Erleichterung, weil damit das Kind die passende Unterstützung erhält. Rechtlich gesehen braucht ein Kind eigentlich keine Diagnose, um in der Schule bedarfsgerecht unterstützt zu werden, die Realität sieht an vielen Schulen aber anders aus.
Keine Abklärung ist also auch keine Lösung?
Genau, sogar im Gegenteil. Ich kenne Kinder, die bereits drei Kindergarten- und Schulwechsel hinter sich haben und deren Eltern sie aus Angst vor einer Stigmatisierung trotzdem partout nicht abklären lassen wollen. Das ist schade, denn mit einer klaren Diagnose könnten die Lehrpersonen besser auf die speziellen Bedürfnisse der Kinder eingehen und sie unterstützen. Eine Diagnose ist auch immer ein Türöffner für entsprechende Therapien und bedarfsgerechte Unterstützung.
Ab welchem Alter macht eine Abklärung denn überhaupt Sinn?
So früh wie möglich. Als Eltern ist es wichtig, früh zu wissen, dass das Kind besonderen Förderbedarf hat und dass man andere Erwartungen an es haben muss. Eine verpasste Abklärung birgt die Gefahr, dass sich eine Beziehungsstörung zwischen Kind und Eltern entwickelt, weil das Kind beispielsweise die Gefühle anderer nicht lesen kann, etwa lacht, wenn jemand weint, oder nicht kuscheln will. Eine Diagnose hilft den Eltern, das Kind zu verstehen und es so zu akzeptieren, wie es ist.
Sie sind auf die Abklärung von Mädchen und Frauen spezialisiert. Bei ihnen wird Autismus seltener erkannt, weil sie sich unter anderem besser anpassen können. Haben Sie ein Beispiel hierfür?
Ja, kürzlich traf ich eine Frau, die immer auf meine Brille schaute, um zu suggerieren, Blickkontakt zu halten. Sie war so geübt darin, dass ich das Problem lange nicht bemerkte. Aufgrund solcher Anpassungen werden Mädchen und Frauen viel häufiger falsch oder gar nicht diagnostiziert.
Wie kann es denn sein, dass sie eine falsche Diagnose erhalten?
Nehmen wir wieder das Thema Blickkontakt, der sowohl Mädchen als auch Jungs mit Autismus Schwierigkeiten bereitet. Bei Mädchen wird diese Schwierigkeit deutlich häufiger überlagert von einer sozialen Angst. Ein Mädchen ist dann so ängstlich, dass es im Kindergarten beispielsweise mit niemandem spielt und spricht oder beim Anstehen in der Reihe seinen Platz nicht verteidigt. Solche Kinder werden mit ihren Problemen zwar meist gesehen, bei Mädchen wird aber eher eine soziale Angststörung diagnostiziert, obwohl eigentlich Autismus dahintersteckt.
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Wie erkennen Eltern eine falsche Diagnose?
Wenn eine Therapie oder ein Medikament innert drei bis sechs Monaten nichts bewirkt, sollten sie die Diagnose überprüfen lassen. Denn dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass noch etwas anderes dahintersteckt. Wichtig zu wissen ist, dass rund 80 Prozent aller Kinder mit Autismus eine Zweiterkrankung haben.
Was passiert eigentlich bei einer Abklärung?
Das ist unterschiedlich. Bei mir besteht sie aus mehreren Bestandteilen. Als Erstes schicke ich beiden Eltern, den Lehrpersonen sowie den betroffenen Jugendlichen ab 10 Jahren ein onlinebasiertes, klinisches Interview. Dieses ist sehr detailreich, was wichtig ist, um auch mehrere Diagnosen zu stellen. Falls angezeigt, mache ich zusätzliche Tests, etwa einen Intelligenztest, ADHS-Diagnostik oder einen Lese- und Rechtschreibtest vor Ort sowie einen ADOS-Test. ADOS ist ein standardisiertes
Instrument mit Verhaltensbeobachtung und oft der einzige Test, den die IV für die Autismus-Spektrum-Diagnose anerkennt.
Aktuell liegt die Wartezeit für eine Autismus-Abklärung für Schulkinder im Raum Zürich bei rund 12 Monaten. Wie können Eltern diese Zeit am besten überbrücken?
Ich rate ihnen, die Zeit zu nutzen, um sich gut zu informieren. Websites wie Autismus.ch sowie einschlägige Chats liefern viele gute Informationen. Falls das Kind noch keine Fachperson zur Seite hat, empfehle ich Eltern den Selbsteinschätzungstest SDQ unter [www.youthinmind.com, (Anm.d.Red.)]. Das Testergebnis kann einen Hinweis darauf liefern, ob man weiter auf eine Abklärung
bestehen soll.
Wann ist der richtige Zeitpunkt, das Kind über seinen Autismus zu informieren?
So bald wie möglich. Es ist wichtig, dass das Kind weiss, dass es anders funktioniert und dass seine Bedürfnisse anders sind als jene von Gleichaltrigen. Wichtig ist, dass jeder Mensch spürt, dass er so geliebt wird, wie er ist, und dass er fühlt, dass er und seine Bedürfnisse akzeptiert werden.
Interview und Foto: Regula Burkhard