Eine Kindheit im
Autismus-Spektrum
Matthias Huber weiss, wie Kinder mit Autismus die Welt wahrnehmen. Er ist Autismus-Experte und hat selbst das Asperger-Syndrom. Der Psychologe berichtet über seine Kindheits-erfahrungen, über das Spielen, die Kommunikation sowie darüber, wie er und seine Freund:innen besser hätten unterstützt werden können.
Matthias Huber ist Psychologe und arbeitet als Autismus-Experte
für Kinder, Jugendliche und Erwachsene bei der Autismus-Beratungsstelle der Stiftung Kind und Autismus in Urdorf. Zudem
referiert er regelmässig als Gastdozent an Hochschulen, Institutionen und Tagungen im In- und Ausland.
www.kind-autismus.ch
«Du könntest mit anderen Kindern spielen.» Die Idee kam meistens von aussen, von Verwandten, Lehrpersonen, Bekannten. Ich selbst hatte als Kind kein unmittelbares Bedürfnis, mit anderen zu spielen, und wusste nicht, warum gemeinsame Tätigkeiten Sinn machen und spannend sein sollen. Ich war etwa fünf Jahre alt, als Mutter sagte: «Schau, die zwei Kinder, sie spielen. Möchtest du auch? Geh doch zu ihnen hin und sag: Darf ich mitspielen?» Ich gehorchte, ging hin, vergass unterwegs,
was ich sagen sollte, und stand nur da. Der eine Junge gab mir eine Ohrfeige. Zurück bei der Mutter, empfahl sie mir, erneut hinzugehen, diesmal mit den Worten: «Ich will nicht mit euch streiten, ich will mit euch spielen.» Ich ging also hin, sagte es (ohne erneut zu vergessen, was ich sagen sollte), und es funktionierte. Wir drei zerrten an einem alten Fischernetz herum, das zuvor am Boden lag. Die Kinder trugen Gummistiefel und der eine Junge ein oranges T-Shirt mit gelben Streifen.
Damals, als ich ein Kind war, gab es die Diagnose Asperger-Syndrom noch nicht. Kinder, die früh sprechen konnten und trotzdem eingeschränkt waren in der Kommunikation sowie Interaktion und die Schwierigkeiten hatten in der Wahrnehmungsverarbeitung, wurden selten als autistisch erkannt. Ich bekam die endgültige Diagnose erst als junger Erwachsener.
Kinder brauchen Erklärungen
Ich merkte früh, dass ich anders war als die anderen Kinder. Dass ich mich nicht für das interessierte, was die andern spannend finden, wie etwa gemeinsames am Boden Sitzen und Spielen, Rollenspiele machen oder einander Fragen stellen. Im Kindergarten fragte mich Peter mal: «Spielst du mit mir in der Spielecke? Du hast es mir versprochen!» Ich wusste allerdings nicht, was er mit «spielen» meinte, denn ich hatte bisher nicht mitbekommen, dass und wie andere Kinder spielten. Eines
Tages reagierte ich auf seine sich wiederholende Frage und nickte. Danach wendete ich mich aber gleich wieder von ihm ab. Dies, weil Peter rückwärts in Richtung der Spielecke ging, als er mich fragte. Für mich verschwand er somit im Nebel des Irrelevanten. Ich «verlor» ihn im – für mich – unübersichtlichen Kindergarten. Also drehte ich mich weg und machte das, was ich überwiegend machte: mit farbigen Würfeln Mosaike bilden und sie anstarren. Peter fragte mich nicht mehr, ob ich mit ihm spielen möchte.
«Ich bekam die endgültige Diagnose erst als junger Erwachsener.»
Matthias Huber, Autismus-Experte
Damals hätte Peter vermutlich eine kindgerechte Erklärung über meine autistische Wahrnehmung sehr geholfen. Es wäre förderlich gewesen, wenn er gewusst hätte, dass zwar meine «Nahsinne» prima funktionierten, meine «Fernsinne» jedoch nicht aktiviert waren, wie bei ihm. Alles, was mehr als 40 Zentimeter von mir entfernt war, sah ich damals nicht klar. Stattdessen nahm ich die Umgebung in einem entweder total unruhigen oder in einem zu ruhigen, überaus belanglosen Dunst wahr. Es war, als reichten meine Augen nicht bis zu Peter, als könnten sie ihn nicht begleiten, wenn er sich von mir entfernte.
Vorhersehbarkeit hilft
Was ich damals auch gerne gewusst hätte: Was spielt mein Kindergarten-Freund, wenn er in der Spielecke spielt? Welche Bewegungen macht er, wenn ich mitspiele? Welche Tätigkeiten gibt es? Was muss ich tun, damit das «spielen» ist? Wie lange spielt man zusammen? Was kann ich machen, wenn es mir nicht gefällt oder ich nicht mehr spielen möchte? Und: Warum will überhaupt ein Kind mit einem anderen Kind spielen, und warum muss ich das auch mögen? So viele Fragen schwirrten mir damals im Kopf herum. Mir fehlte schlicht das Konzept von Spielen.
«Also drehte ich mich weg und machte das, was ich überwiegend machte: mit farbigen Würfeln Mosaike bilden.»
Matthias Huber, Autismus-Experte
Wenn Kindern mit Autismus Konzepte fehlen, brauchen sie die Unterstützung der Erwachsenen. Und vielleicht wäre auch Peter dankbar gewesen, wenn man ihn aufgemuntert hätte, mich ein anderes Mal erneut zu fragen, ob ich spielen wolle. Hätte eine erwachsene Person Peter darin unterstützt, mit mir ein Spiel zu beginnen, wäre dies wohl auch gelungen. Und mir hätte es damals geholfen, wenn mir jemand den Spielablauf vorhersehbar aufgezeigt hätte. Gute Hilfsmittel dafür sind etwa Piktogramme, die zeigen, wie eine Spielsituation abläuft, sowie ein sogenannter Time Timer, der visualisiert, wie
lange eine Spielsituation noch dauert. Es hätte mir geholfen, zu wissen, wie lange ich spielen soll und wann ich wieder das tun kann, was ich immer gerne tue: mit farbigen Würfeln Mosaike bilden und sie, mit beiden Armen auf dem Tisch abgestützt, anstarren.
Paralleles Spielen
Im Kindergarten mochte ich es, draussen auf leeren Büchsen zu gehen. Die Büchsen hatten Löcher, durch die eine Schnur gezogen und verknotet war. Wir Kinder stellten uns auf die Büchsen, zogen an den Schnüren links und rechts und bewegten uns langsam wie auf Stelzen, Marionetten ähnelnd, vorwärts. Dass die Kinder mit mir zusammen auf Büchsen gehen wollten, war mir nicht bewusst. Mir fielen lediglich ein paar sich bewegende Büchsen mit Schuhen drauf auf, jedoch keine Kinder. Alles, was ich sah, waren Büchsen und Schuhe; alles oberhalb der Schuhe war nicht existierend für mich. Rückblickend frage ich mich: Erkannten die anderen Kinder, dass ich mich mit bewege, ohne zu wissen, dass sie neben mir hergehen? Merkten sie, dass mir die Bewegung Spass machte?
Neurotypischen Kindern kann es helfen, wenn man ihnen erklärt, dass es ihrem oder ihrer Kindergarten-Freund:in mit Autismus auch Spass macht, nebenher auf Büchsen zu gehen. Paralleles Spielen ist auch «spielen» und kann sich mit Unterstützung zu einem gemeinsamen Spiel entwickeln.
«Abmachen», wie geht das?
Im Jugend- und Erwachsenenalter spielt man nicht mehr wie ein Kind. Man verabredet sich. Das Thema «Abmachen», sich mit anderen Menschen treffen, brachte mich oft ins Grübeln: Was machen Kolleg:innen, wenn sie «abmachen»? Was muss ich tun, damit das «Abmachen» ist? Wie lange «macht» man «ab»? Was kann ich machen, wenn es mir zu viel wird oder mir nicht gefällt? Darf man früher nach Hause gehen als abgemacht? Wenn ja, wie geht man früher, was sagt man? Warum will eine Person mit einer anderen Person überhaupt «abmachen» und warum muss ich das auch mögen?
ebenfalls interessant!
Lesen Sie gerne auch noch…
…unseren umfassenden Beitrag zum Thema Autismus sowie das Interview mit Dr. med. Christine Kuhn über die Diagnose bei Kindern.
Im Verlauf meines Lebens habe ich mit Unterstützung gelernt, dass Abmachen unterschiedlich ablaufen kann und ich nicht alle Anpassungsleistungen auf mich zu nehmen brauche. Ich habe gelernt, dass ich auch auf meine Art und unter Einbezug dessen, wie ich bin und was für mich möglich ist, abmachen darf. Ich darf abmachen, so wie ich bin. Und ich darf durchatmen.
Weg von neurotypischen Regeln
Manche Menschen mit Autismus haben die Erfahrung gemacht, dass ein Zusammensein im gleichen Raum ohne ständigen Austausch – auch für längere Zeit – äusserst angenehm sein kann. Denke ich an meine Jugendjahre zurück, erinnere ich mich hingegen an einen anstrengenden Druck, sowohl von aussen als auch einen selbst gemachten. Ich dachte, ich müsse interagieren, reagieren, die richtigen Dinge sagen, Interesse zeigen. Allerdings wusste ich nicht, wie. Und das hemmte den Wunsch, gemeinsam mit anderen unterwegs zu sein. Heute, als Erwachsener, weiss ich: Wie lange man abmacht, wie man abmacht, was man dann tut, wenn man abmacht, muss nicht immer den neurotypischen Regeln und Erwartungen entsprechen. «Gleichzeitig-abwechselnd» oder «synchron» oder einfach «in der Nähe voneinander» zu sein, sind ebenfalls schöne und legitime
Formen von zusammen unterwegs sein.
«Heute weiss ich: Wie man abmacht und was man dann tut, muss nicht immer den neurotypischen Regeln und Erwartungen entsprechen.»
Matthias Huber, Autismus-Experte
Unterstützung ist wichtig
Seit meiner Kindheit ist Autismus in der Gesellschaft bekannter geworden. Es bleibt aber nach wie vor viel zu tun. Denn spezifisches Wissen über das Wahrnehmen, Denken und Handeln des Gegenübers kann die Qualität des Zusammenlebens verbessern. Es ist für alle Kinder – ob mit oder ohne Autismus – hilfreich, wenn sie sich dieses Wissen nicht alleine aneignen müssen. Es ist wichtig, dass sie Menschen um sich haben, die sie beim sozialen Austausch unterstützen, und die nicht denken, Kinder müssten alle Erfahrungen selber machen. Genau dann profitiert jeder beteiligte Mensch davon. Und übrigens: der Junge, der mir damals bei unserer ersten Begegnung eine Ohrfeige gab, war Peter. Er wurde für einige Jahre mein bester Freund. Weil uns Mutter dabei geholfen hat. Uns beiden.
Text: Matthias Huber Fotos: z. V. g., Adobe Stock