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Mitten im Leben

Marianne Wüthrichs Sohn Max ist im Autismus-Spektrum und ihre Zwillingsjungs sind mitten im Teenager-Alter. Bisher gelang der Balanceakt in der Familie zwischen Action, Teilhabe und Pausen ganz gut, findet sie. Dieses Jahr wird Max volljährig ─ und ein neues Kapitel mit ganz anderen Herausforderungen wird beginnen.

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Mitten im
Leben

Marianne Wüthrichs Sohn Max ist im Autismus-Spektrum und ihre Zwillingsjungs sind mitten im Teenager-Alter. Bisher gelang der Balanceakt in der Familie zwischen Action, Teilhabe und Pausen ganz gut, findet sie. Dieses Jahr wird Max volljährig ─ und ein neues Kapitel mit ganz anderen Herausforderungen wird beginnen.

Max wird in diesem Jahr 18. Das wurde mir spätestens dann klar, als ein Schreiben der Schweizer Armee ins Haus flatterte. Max soll zu einem festgelegten Datum in der Kaserne Birmensdorf zum obligatorischen Orientierungstag antreten. Wow! Kleingedruckt steht da auch: «Für Menschen mit Behinderung ist die Teilnahme nicht obligatorisch.» Immerhin. Auch wenn ich die meisten Dinge im Leben mit Max mit Humor nehme und wir uns lachend ausgemalt hatten, wie das wohl aussehen würde, mit Max und Autismus-Begleithund in der Kaserne aufzutauchen, so muss ich gestehen, dass
ich gut ohne diesen Realitätscheck leben kann. Max kann mit Gleichaltrigen nicht mithalten, bei nichts. Das ist unsere Realität und wir haben sie längst akzeptiert, auch dass Max in einer eigenen Liga spielt, unvergleichlich eben. Aber in solchen Situationen, in denen mir als Mutter das «normale Leben» so richtig fest vorgehalten wird, brauch ich manchmal einen Moment, muss einmal tief ein- und ausatmen.

Am Telefon hat mir ein freundlicher Herr erklärt, dass er vermerken werde, dass Max nicht durch den regulären Rekrutierungsprozess laufe und wo ich welche Dokumente einreichen kann. Bei meiner Aufzählung von Max’ Einschränkungen meinte er, vermutlich reiche schon die Autismus-Diagnose als Begründung.

Autismus erst im Schulalter erkannt

In den letzten Jahren hat sich vieles verändert, bei Max, aber auch um uns herum. In den ersten Tagen, Wochen und Monaten von Max’ Leben stand der Herzfehler im Zentrum. Ohne Operation kein Leben. Mit Operation, immer mit dem Hinweis, dass es auch Komplikationen geben kann, gingen die Ärzt:innen von guten Chancen und guter Lebensqualität aus. In den letzten Jahren ist der Herzfehler, bis auf die Kontrolltermine beim Kardiologen, in den Hintergrund getreten. Andere Diagnosen haben uns mal mehr, mal weniger beschäftigt. Autismus kam eher spät dazu. Wahnsinnig viele Fragen standen plötzlich im Raum. Auch die nach einer möglichen Therapie. Aber da Max bereits eingeschult war und aufgrund seines Diagnosen-Katalogs schon eine Reihe von Therapien erhielt, erachteten wir es als nicht sinnvoll, noch mehr obendrauf zu packen.

Max ist ein unternehmungslustiger Teenager, braucht einfach mehr Pausen als andere. Hier in der Vogelwarte Sempach.

Balanceakt zwischen Action und Ruhepausen

Autismus ist in den letzten Jahren als Thema geblieben. Wir haben nun einen treuen vierbeinigen Begleiter und wir versuchen, Balance zu halten. Wo schalten wir einen Gang zurück, damit die Überforderung nicht zu gross wird? Wann muss auch Max sich durchbeissen? Wäre Max ein Einzelkind geblieben, hätten wir uns vielleicht mehr zurückgezogen, Reisen oder Ausflüge eher weggelassen. Der Angst vor Reizüberflutung mehr Platz in unserem Leben gegeben. Ich wollte als Familie nie am Rand stehen, sondern mittendrin, auch wenn Max manchmal die Nerven verliert. Zwischenzeitlich hängen die Teenager-Zwillinge gerne in ihren Zimmern oder auf dem Sofa rum. Nicht so Max. Der taucht mit seinem Sprachcompi auf und drückt «Socken, Turnschuhe», was so viel bedeutet wie: Lass uns rausgehen, was erleben, im Minimum einen Spaziergang mit dem Hund machen. Max freut sich an der Welt, will Teil davon sein und Action haben. Er braucht einfach mehr Pausen.

Wo ist der passende Ort?

In den letzten Jahren wurde Autismus in meinen Augen in der Gesellschaft sichtbarer. Gab es lange nur einen Blick darauf, nämlich: «Ah, die können besonders gut rechnen» (dem Film «Rainman» sei Dank), ändert sich dies doch langsam. Es gibt mehr Filme, Berichte, Bücher und Porträts von Betroffenen. Nicht jeder Mensch im Autismus-Spektrum kann gut rechnen, eine ganze Stadt nach nur einmal Überfliegen detailgetreu nachzeichnen oder hat sonst eine exotische Inselbegabung. Aber fast alle müssen sich ihren Platz in der Schule, im Beruf, im Alltag, in der Gesellschaft erkämpfen. Geschenkt wird ihnen nichts. Hin und wieder entstehen wunderbare Projekte, zum Beispiel bei visoparents.

Zurück zu Max … er wird also 18. Damit stellt sich auch die nächste, grosse Frage: Wo soll sein Weg hinführen? Wo soll Max arbeiten, wohnen, leben? Unterschiedliche Stiftungen und Orte kommen infrage. Wir sind noch am Anfang dieser nächsten Reiseetappe. Kürzlich bemerkte jemand, Bezug
nehmend auf eine Stiftung: die können da gut mit «Autist:innen». Aber können sie auch mit Max? Denn vielleicht möchte Max nicht auf Autismus reduziert werden? Vielleicht möchte Max sein buntes Leben mittendrin weiterführen? Das Leben mit Max, es ist und bleibt ein Balanceakt, ein Abwägen, ein Ausprobieren.

Text und Fotos: Marianne Wüthrich

Marianne-Wüthrich

Marianne Wüthrich
Autorin und Präsidentin der Stiftung visoparents

In dieser Kolumne schreibt sie über ihren Alltag mit Max (17) und den Zwillingen Tom und Leo (14). Max ist infolge des Charge-Syndroms mehrfach behindert und im Autismus-Spektrum.

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