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Fokus: Pflegende Angehörige

24 Stunden im Einsatz

Stefanie und Claudio Marti haben drei Kinder. Das älteste, Luana, ist mit einer mehrfachen Behinderung zur Welt gekommen und benötigt rund um die Uhr Pflege und Betreuung. Ergotherapeutin Margit Riedel hat die Familie besucht und beschreibt, was es für die Eltern heisst, Care-Arbeit in den hektischen Familienalltag zu integrieren.

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24 Stunden
im Einsatz

Stefanie und Claudio Marti haben drei Kinder. Das älteste, Luana, ist mit einer mehrfachen Behinderung zur Welt gekommen und benötigt rund um die Uhr Pflege und Betreuung. Ergotherapeutin Margit Riedel hat die Familie besucht und beschreibt, was es für die Eltern heisst, Care-Arbeit in den hektischen Familienalltag zu integrieren.

Margit Riedel arbeitet als Ergotherapeutin an der Heilpäda-gogischen Tagesschule visoparents. Normalerweise trifft sie Luana zweimal in der Woche für die Therapie in den Räumlichkeiten der Schule. Für diese Reportage gewährte ihr Luanas Familie einen wertvollen Einblick in ihren Alltag.

Es ist ein Mittwoch, früher Nachmittag, als ich bei der Familie Marti in Dänikon ZH klingle. Ich bin mit Stefanie Marti verabredet, die mir heute einen Einblick in ihr Familienleben gibt. Zur Familie gehören Luana (11), Alessio (7), Livio (4) sowie Stefanie und Claudio, beide 43 Jahre alt. Die beiden sind in der Stadt Zürich aufgewachsen und haben sich mit Anfang 20 beim Handballspielen kennengelernt. Ihr ältestes Kind, Luana, hat eine seltene Mutation auf dem NACC1-Gen, welche sich bei ihr als senso-motorische und kognitive Entwicklungsverzögerung mit Epilepsie äussert. Sie benötigt deshalb rund um die Uhr Betreuung.

Weltweit wurde dieser Gendefekt nur bei 40 Familien nachgewiesen. Luana ist Schülerin in der Mittelstufe an der Heilpädagogischen Tagesschule visoparents in Zürich-Oerlikon, wo sie während des Schulalltags von mir ergotherapeutisch unterstützt wird. Sie kann nicht sprechen, lautiert aber und drückt ihre Bedürfnisse über ihren Körper aus. In Begleitung kann sie selbstständig essen, trinken und auf einem Stuhl sitzen. Sie bewegt sich hauptsächlich krabbelnd vorwärts, seit einiger Zeit kann sie eine mittlere Strecke zu Fuss gehen, wenn sie an der Hand gehalten wird. Manchmal hat sie heraus- fordernde Phasen, in denen sie sich emotional schlecht regulieren kann. Dann äussert sie lautstark ihr Unwohlsein und lässt sich nur schwer beruhigen. In solchen Zeiten sind ihre Unterarme meist bläulich verfärbt, weil sie sie gegen die Zähne schlägt. An diesem regnerischen Märztag sitze ich, nach einer Führung durch die Wohnung, mit Mutter Stefanie am Familienesstisch. Bei wunderbarem italienischem Kaffee erzählt sie, wie sie Care-Arbeit, ihren Job und das Familienleben unter einen Hut bringt.

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Gute Organisation, viel Energie und Zuversicht prägen das Familienleben: Stefanie und Claudio Marti mit ihren drei Kindern.

Entlastung dank Grosseltern

Martis leben in einer grosszügigen 4,5-Zimmer-Erdgeschosswohnung mit Terrasse und Garten. Luana schläft in ihrem eigenen Zimmer, hat ein grosses Bett, darüber ist eine Hängematte gespannt. Teilen ist in dieser Familie Prinzip, manchmal ist Luanas Zimmer auch Familienbüro. Die beiden Brüder teilen sich ein Spielzimmer mit grosser Höhle, Luana schläft bei sich, der Rest der Familie im Elternschlaf-zimmer.

Heute ist Luana nicht zu Hause, sondern bei den Grosseltern in Zürich Affoltern, wie jeden Mittwoch-nachmittag. Es sind Claudios Eltern, mit denen Luana innig verbunden ist und für deren Unterstützung Stefanie unendlich dankbar ist. Das Grosskind wird wie immer auch die Nacht bei ihnen verbringen und am Donnerstagmorgen mit dem Transport direkt zur Schule gebracht. «Wenn sie jetzt hier wäre, hätten wir keine ruhige Minute», sagt Stefanie Marti und lacht. Alessio hingegen ist schon seit Mittag von der Schule zurück und spielt im Wohnzimmer.

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Eltern- und Fachberatung

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Kind mit Behinderung?

Die Eltern- und Fachberatung der Stiftung visoparents bietet Eltern, Geschwistern sowie Fachpersonen eine ganzheitliche Beratung und Begleitung in allen Fragen zu Kindern mit Behinderung. Sie vermittelt Kontakte zu Selbsthilfegruppen und Entlastungsangeboten, hilft bei Erziehungs- und Finanzierungsfragen und unterstützt im Umgang mit Behörden, Versicherungen, Schulen und Arbeitgebenden.

Hektik am Morgen

«Heute begann der Tag schon sehr früh», sagt Stefanie. Claudio arbeitet am Flughafen und koordiniert Flugrouten. Er ist für die Frühschicht schon um 5.20 Uhr aufgestanden und hat mit Livio, dem Jüngsten, das Haus kurz darauf verlassen. Livio besucht eine Kita in Kloten, die mit ihren Öffnungs-zeiten auf die Bedürfnisse von Flughafenmitarbeitenden ausgerichtet ist.

Manchmal ist aber noch zeitiger Tagwacht. «Luana erwacht manchmal extrem früh. Dann ruft sie nach uns und wenn wir nicht antworten, weil wir noch schlafen wollen, kommt sie aus dem Zimmer und poltert so lange an die Türe, bis alle wach sind», so Stefanie Marti. Spätestens um 5.45 Uhr steht dann auch sie auf und macht den Milchschoppen und die Epilepsie-Medikamente für Luana parat. Nach dem Frühstück folgt die tägliche Routine: Luana wickeln, anziehen, Haare kämmen, Zähne putzen. Schnell noch die Orthesen und die Schuhe anziehen und ab geht’s, raus und ins Taxi.

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Luana ist mit dem Gehtrainer während des Schulalltags draussen unterwegs.

Auf dem Weg dorthin verkündet Luana mit lauten Rufen der ganzen Nachbarschaft, dass es endlich zur Schule geht. Der Morgen ist immer hektisch. Alles müsste gleichzeitig erledigt sein, zumal sich auch Alessio für die Schule bereit macht. «Für korrektes, unterstütztes Anziehen bleibt leider schlicht keine Zeit», erzählt Stefanie Marti. Und sowieso, oft läuft es nicht wie geplant: Kaum angezogen, füllt Luana gelegentlich die frische Windel sogleich wieder – also nochmals wickeln. Auch ein besonders heftiger Epilepsie-Anfall kommt frühmorgens manchmal vor. Am meisten Stress kommt aber auf, wenn Luana gerade in einer unruhigen Phase ist. Dann ist sie oft so wütend, dass sie schon beim Aufwachen schreit und tobt.

Es verlangt körperlichen Einsatz, Luana anzuziehen, sie beim Gehen zu unterstützen und sie im Autokindersitz anzuschnallen. Oftmals bleibt Stefanie Marti deshalb schweissgebadet zurück und gönnt sich erst eine Dusche, wenn alle Kinder aus dem Haus sind. Kurz nach 8 Uhr bricht sie dann selbst auf. Seit Kurzem arbeitet sie als Pädagogische Mitarbeiterin im integrativen Kindergarten der Stiftung Vivendra. Nach langer Tätigkeit als Kauffrau bei Siemens hat sie sich beruflich neu orientiert. Ihre neue Arbeit empfindet sie spannend und wertvoll. «Eigentlich wollte ich eine berufliche Pause einlegen, aber dann hat sich diese Möglichkeit über einen privaten Kontakt spontan ergeben. Bei uns läuft immer etwas und das finden wir auch gut so», sagt sie.

Kaum ist der Kindergarten aus, eilt Stefanie Marti jeweils nach Hause, wo sie und Alessio zu Mittag essen. Heute kommt Claudio Marti kurz nach 15 Uhr mit Livio nach Hause und setzt sich einen Moment zu uns. Wir scherzen und lachen und sprechen über die Familienferien. Claudios Eltern kommen ursprünglich aus Süditalien. Sie besitzen eine Wohnung in Apulien, wo die Familie zusammen mit den Grosseltern jeweils die Sommerferien verbringt. Martis sind reisefreudig und gerne gemeinsam unterwegs. Luana ist immer dabei und wird so auf vielen Wegen gefördert.

Schlaf, ein knappes Gut

Unter der Woche, ausser mittwochs, trifft Luana – meist sehr hungrig – gegen 17 Uhr zu Hause ein. Dann gilt es, schnell etwas zu essen auf den Tisch zu bringen. Und nach dem Abendessen gibt’s für die Eltern wieder alle Hände voll zu tun. «An ihren guten Tagen sortiert Luana uns die ganze Wohnung neu: Dann klettert sie in die Badewanne, spielt mit dem Duschmittel, räumt in der Küche den Herd oder im Wohnzimmer den Tisch ab oder fräst den Brüdern mitten durch das neuste Lego-Kunstwerk. Sie hat sich dadurch den Spitznamen Luluzilla eingeheimst», erzählt Stefanie Marti und lacht. An ruhigen Tagen hingegen sitzt sie auf dem Sofa, beobachtet ihre Brüder beim Spielen oder zieht sich in ihr Bett zurück. «Unter der Woche haben wir ein dicht gedrängtes Programm. Therapeutische Neuerungen bleiben dadurch manchmal auf der Strecke, es sei denn, sie lassen sich supereinfach im Alltag integrieren», erzählt die Mutter.

Bevor Martis Feierabend haben, heisst es: Milch trinken, wickeln, Zähne putzen und ab ins Bett. Das klingt einfacher, als es ist. Oftmals will Luana partout nicht schlafen, kommt einige Male wieder aus dem Zimmer und braucht viel Aufmerksamkeit, bis sie dann doch zur Ruhe kommt. Überhaupt ist Schlaf seit vielen Jahren ein knappes Gut. Damit sie trotzdem genug Erholung haben, gehen Martis
generell zeitig ins Bett, Stefanie oft schon um 20.30 Uhr. Heute Abend jedoch ist Luana bei den Grosseltern, Claudio Marti hütet die beiden Buben und Stefanie nimmt sich Zeit für ihr Hobby. Sie geht mit einer Freundin klettern in der Kletterhalle in Schlieren – da kann es auch mal später werden. Bevor ich mich verabschiede, frage ich Stefanie Marti: «Ihr seid so lebenslustig und optimistisch, woher nehmt ihr diese Einstellung?» «Wir sind einfach so. Aber auch wegen Luana, weil sie ist, wie sie ist.»

Text: Margit Riedel Foto: zvg, Vera Markus

Beratungs- und Entlastungsangebote

Von Eltern für Eltern
Die Konferenz der Vereinigungen von Eltern behinderter Kinder (KVEB) ist ein Netzwerk von
Eltern für Eltern. Mehrere Elternselbsthilfeorganisationen haben sich zusammengeschlossen
mit dem Ziel, Wissen und Erfahrung auszutauschen. Mit zahlreichen weiterführenden Links.
www.behindertekinder.ch

hiki, Hilfe für hirnverletzte Kinder
hiki bietet mehrtägige, langfristige Entlastung für Familien mit einem Kind oder einer/einem Jugendlichen mit Hirnverletzung.
www.hiki.ch

Entlastungsdienst Schweiz
Die Entlastungsdienste bieten Betreuung und Unterstützung von pflegenden Angehörigen
von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung oder besonderen Bedürfnissen an.
www.entlastungsdienst.ch

Tages- und Ferienentlastung Stiftung Kifa
Die Stiftung Kifa Schweiz bietet neben einer Kinderspitex auch Entlastungsangebote an.
www.stiftung-kifa.ch

Schnelle Entlastung mit SOS-Betreuung
SOS-Betreuung, ein Angebot des Entlastungsdienstes Zürich, bietet kompetente Betreuung
und Unterstützung in Notsituationen und bei Betreuungsengpässen im ganzen Kanton Zürich an.
www.sos-betreuung.ch

Sunnemätteli für mehrere Tage
Das Entlastungsheim der Heilsarmee Sunnemätteli in Bäretswil ZH nimmt Kinder mit Behinderung für Wochenenden oder Ferien auf. Es stehen auch Notfall- und Übergangsplätze zur Verfügung.
www.sunnemaetteli.heilsarmee.ch

Temporäres Zuhause in der Sonnenhalde
Die Sonnenhalde bietet temporäre Betreuung
für Kinder und Jugendliche mit Mehrfachbeeinträchtigung, die ihr Leben im familiären Umfeld
verbringen. Auch Notfallplätze verfügbar.
www.stiftung-sonnenhalde.ch

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