Babysitting –
eine Herausforderung
Während andere Eltern mit grösser werdenden Kindern immer mehr Freiheiten zurückerlangen, wird die Betreuung für Max nicht einfacher. Vor allem die Kommunikation und die Ernährung erschweren es, geeignete Babysitter:innen zu finden. Gerade deshalb sind die seltenen kleinen Fluchten aus dem Alltag für Marianne Wüthrich und ihren Mann Gold wert.
Der kleine Max war, wenn es um Fremdbetreuung ging, ein ziemlich einfaches Kind. Natürlich, es gab medizinische Punkte, die beachtet werden mussten. Er hatte beispielsweise die Angewohnheit, die mühsam getrunkene Nahrung wieder rauszugeben. Und manchmal musste seine Nase ganz oft gespült werden, damit er überhaupt Luft bekam. Aber wo oder bei wem wir ihn ab und zu in Obhut gaben, interessierte ihn wenig. Er war ein zufriedener kleiner Kerl, der nicht übermässig viel schrie oder getragen werden musste. Er konnte sich lange mit einem Mobile an der Decke oder über seiner Spielmatte vergnügen und sich bald schon mit Bilderbüchern beschäftigen. Draussen, im Kinderwagen unterwegs, war er sowieso glücklich. Im Hinblick auf einen möglichen medizinischen Notfall mussten
Babysitter:innen dennoch ein Stück Lebenserfahrung mitbringen. Dem Teenager von nebenan hätten wir die grosse Verantwortung nicht übertragen wollen.
Die Grosseltern übernahmen viele Stunden, damit ich auch zur Arbeit konnte, und entlasteten uns auch mal an einem Abend. Auch Freundinnen und Freunde halfen immer wieder mit. Alles in allem lief es wie bei allen anderen um uns herum: hatten wir einen Plan sowie eine:n Babysitter:in und waren wir nicht zu müde, hatten wir ab und zu einen freien gemeinsamen Abend.
Kommunikationsprobleme erschweren das Babysitten
Etwas verkompliziert wurde die Lage natürlich, als es dann plötzlich drei kleine Jungs waren. Die Arbeitstage deckten wir über eine Nanny ab, später über die Kita Kinderhaus Imago, und die seltenen Male, an denen wir noch ausgehen wollten oder sonst Termine anfielen, sprangen die oben genannten Personen ein.
So weit, so gut. Dann allerdings ging unsere «Entwicklung» in eine andere Richtung. Max wurde grösser und als Person komplexer. Er konnte (und kann) sich nicht so mitteilen, dass sein Gegenüber weiss, was er braucht. Während sich andere Familien in unserem Umfeld schon Gedanken darüber
machten, ob es wohl reicht, wenn jemand von nebenan zu Hause ist und die Kinder sich im Zwei-felsfall da kurz melden könnten, mussten wir sehr genau überlegen, wer mit Max klarkommt. Zeitweise war er so schnell frustriert und fühlte sich so unverstanden, dass er sich selbst, aber auch alle um sich herum schlug – mit einer Kraft, die man in ihm nicht vermutet hätte. Nicht mehr allen konnten wir Max guten Gewissens anvertrauen. Einige Male kamen wir – manchmal auch vorzeitig – aus dem Ausgang heim und mussten eine Krise bei Betreuungsperson und Max schlichten.
Freiheiten werden nicht grösser
Aufgrund seiner massiven Schlafstörungen ist es bis heute unmöglich, dass wir Max für eine Nacht zu Freund:innen oder Grosseltern geben. Auch die Tatsache, dass Max noch immer Windeln benötigt, macht die Situation nicht einfacher. Ausserdem ist das Essen ein Risikofaktor: so sehr wir uns auch freuten, als Max endlich in der Lage war, feste Nahrung zu essen, so gross ist das Risiko, dass er an einem Stück Wurst oder Ähnlichem erstickt. Essen ohne Aufsicht geht deshalb nicht. Wenn wir dennoch ausnahmsweise einmal nicht zu Hause sind, koche ich Speisen vor, die alle mögen und Max mit Sicherheit gut essen kann. Es ist unsere Realität: Während meine Freundinnen wieder mehr Freiheiten haben und spontaner unterwegs sind, müssen wir sicherstellen, dass ein Elternteil zu Hause ist. Wollen wir zu zweit weg, braucht es eine Vertrauensperson, die übernimmt. Fragt meine Vorgesetzte, ob ich auch einmal an einem Mittwochnachmittag für einen Termin verfügbar wäre, muss ich ablehnen.
Coole Brüder können helfen
Es stellte sich all die Jahre als schwierig heraus, eine Person zu finden, die auf Max aufpassen kann, sich nicht aus der Ruhe bringen lässt und Verantwortung übernimmt. Durch einen sehr glücklichen Zufall haben wir kürzlich aber eine junge Frau gefunden, die zu uns passt. Ihr jüngerer Bruder ging vor vielen Jahren mit Max in den Regelkindergarten – wir hatten die Familie seither aber aus den Augen verloren. Ein paar Tage bevor ich für eine Reise packen wollte, traf ich den Vater zufällig, kam mit ihm ins Gespräch und er meinte, ich solle doch eine seiner Töchter anfragen. Die könnten doch sicher eine Runde Lego mitbauen und mir den Rücken freihalten. Das tat ich dann auch und es hat gut geklappt. Seither geht die junge Frau immer mal wieder bei uns ein und aus.
Es sind kleine Alltagsfluchten, Zeit für uns zu zweit – die wir uns dann gönnen. Vereinzelt ist auch mal ein Gotti-Götti-Gespann für 24 Stunden bei uns eingezogen. Dann fühlten wir uns, als wären wir tagelang verreist. Wir schätzen diese Fluchten sehr, vielleicht auch weil sie so selten und nicht selbstverständlich sind.
Die Zwillinge beklagten sich irgendwann, dass sie jetzt sicher keine:n Babysitter:in mehr bräuchten. Ich verstand sie so gut, auch dass sie natürlich gerne mal einen Abend sturmfrei haben wollten. Leider kann ich ihnen das selten ermöglichen. Wir haben uns darauf geeinigt, jeweils einfach eine Max-Betreuung zu organisieren. Sie fungieren in diesen Situationen als Übersetzer, sie kennen sich im
Haus aus, wissen, was wo zu finden ist, aber auch was Max in gewissen Momenten vielleicht helfen könnte. Ihnen die ganze Verantwortung für Max geben, wollen wir (noch) nicht. Aber in brenzligen Situationen können sie wunderbar cool die Schultern zucken und erklären: «Das ist voll normal so!» Und das ist manchmal sehr viel wert.
Text und Fotos: Marianne Wüthrich
Marianne Wüthrich
Autorin und Präsidentin der Stiftung visoparents
In dieser Kolumne schreibt sie über ihren Alltag mit Max (17) und den Zwillingen Tom und Leo (14). Max ist infolge des Charge-Syndroms mehrfach behindert und im Autismus-Spektrum.