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Fokus: Wohnen

Inklusives Wohnen: Zusammenleben auf Augenhöhe

Für Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen stellt sich oft die Frage: Wie und wo wird mein Kind dereinst wohnen? Um Antworten auf diese Frage zu finden, hat Blindspot in Bern das Projekt «Inklusiv Wohnen» lanciert. Die daraus generierten Erkenntnisse werden in künftigen Wohnideen einfliessen mit dem Ziel, einst geeignete Zuhause für alle zu schaffen.

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Inklusives Wohnen:
Zusammenleben
auf Augenhöhe

Für Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen stellt sich oft die Frage: Wie und wo wird mein Kind dereinst wohnen? Um Antworten auf diese Frage zu finden, hat Blindspot in Bern das Projekt «Inklusiv Wohnen» lanciert. Die daraus generierten Erkenntnisse werden in künftigen Wohnideen einfliessen mit dem Ziel, einst geeignete Zuhause für alle zu schaffen.

Die Schweiz hat in den letzten Jahren wichtige Schritte in Richtung Inklusion gemacht. Dennoch gibt es noch viel zu tun, insbesondere wenn es um inklusives Wohnen geht. Projekte wie Mehrgenerationenhäuser, integrative Wohngemeinschaften oder inklusive Wohnprojekte zeigen jedoch, dass das Thema an Bedeutung gewinnt.

Blindspot, eine Non-Profit-Organisation aus Bern, engagiert sich für Inklusion und Vielfaltsförderung in der Schweiz. Mit ihrem Projekt «Inklusiv Wohnen» setzt sie sich dafür ein, dass Inklusion im Wohnbereich kein Zukunftstraum bleibt. Dafür arbeitet sie eng mit Architekt:innen, Stadtplaner:innen und politischen Entscheidungsträger:innen zusammen, setzt inklusive Wohnkonzepte in die Praxis um und schafft mit dieser Pionierarbeit die Basis für viele weitere Wohnprojekte. Doch wie funktioniert das inklusive Wohnen genau?

Selbstbestimmung steht im Mittelpunkt

«Bei Blindspot bedeutet inklusiv wohnen, dass Menschen mit und ohne Beeinträchtigung gleichberechtigt zusammenleben. Dies passiert in zentral gelegenen Wohngemeinschaften (WGs), wo man sich Küche, Wohnzimmer und auch das Badezimmer teilt», sagt Gründer und Geschäftsführer Jonas Staub. Blindspot hat in Bern zwei grosse Wohnungen für inklusives Wohnen angemietet.
Die eine liegt in der Lorraine, die andere im Ostring. Beide Wohnungen sind gut an den öffentlichen Verkehr angebunden und bieten auch sonst viele Möglichkeiten, am sozialen Leben teilzunehmen.

In den inklusiven WGs leben junge Menschen zwischen 18 und 30 Jahren zusammen, die Lust auf Gemeinschaft haben. Diese WGs sind besonders bei Studierenden und Auszubildenden beliebt, weil sie oft relativ günstig und zentral gelegen sind. Ausserdem bieten sie einen optimalen Start in das eigene Leben. Hier steht die Selbstbestimmung im Mittelpunkt. Das bedeutet, dass jede und jeder selbst entscheidet, wann man ins Bett geht, was man isst oder wie sie oder er die Freizeit verbringt.
Ganz normal also. Und es entstehen durch das Zusammenleben oft enge Freundschaften, die auch über die WG-Zeit hinaus halten.

So sagt beispielsweise Sophie (21), eine Mitbewohnerin ohne Beeinträchtigung: «Ich habe das Gefühl, es hat sich sehr natürlich ergeben, dass Freundschaften entstanden sind, man abends mal ein Glas Wein trinkt oder wir draussen auf dem Balkon sitzen. Alle haben so ihre Ecken und Kanten. Ob das jetzt eine Beeinträchtigung ist, die mal irgendwann als Beeinträchtigung klassifiziert wurde, oder ob es einfach ein Charakterzug ist, macht keinen grossen Unterschied.»

Für wen ist «Inklusiv Wohnen»?

Das Projekt richtet sich an junge Menschen mit und ohne Beeinträchtigung zwischen 18 und 30 Jahren, die motiviert sind, selbstständiger zu werden und sich weiterzuentwickeln. Wichtig
ist, dass sie gewillt sind, sich aktiv ins WG- und gesellschaftliche Leben einzubringen, und verbal kommunizieren können. Die Eltern oder andere Bezugspersonen sollten eine befürwortende inklusive Haltung haben und Verantwortung abgeben können. Alle ein bis zwei Monate findet eine WG-Sitzung statt. Nicht geeignet ist das Angebot für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen oder akutem Bedarf an Pflege.

Wohnen in sozialen Strukturen

«Ich habe gedacht, ich bin jetzt langsam in einem Alter, in dem ich ausziehen muss», sagt Eric (27), ein Mitbewohner mit Beeinträchtigungen, über seine Motivation für das inklusive Wohnen. Für Eltern von Jugendlichen mit Beeinträchtigungen ist die Frage nach geeignetem Wohnraum von zentraler Bedeutung. Dabei geht es oft nicht nur um bauliche Barrierefreiheit, sondern vor allem auch um soziale Strukturen, in denen alle Bewohnenden voneinander lernen und profitieren.

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In der inklusiven WG in der Lorraine leben vier Personen zusammen.

Blindspot bringt jahrelange Erfahrung im Wohn-, Arbeits- und Freizeitbereich mit. Diese half, die nötigen sozialen Strukturen für das Projekt «Inklusiv Wohnen» zu schaffen. Denn jeder Mensch hat das Recht, mitten in der Gesellschaft zu leben. Doch oft haben Menschen mit Beeinträchtigungen nur zwei Optionen: Entweder sie bleiben bei ihren Eltern, oder sie ziehen in eine spezielle Einrichtung. Inklusives Wohnen bietet eine dritte Möglichkeit. Hier können Menschen mit Beeinträchtigungen selbstbestimmt leben und trotzdem die Unterstützung bekommen, die sie brauchen.

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Blindspot

Die Non-Profit-Organisation Blindspot kreiert Plattformen für Begegnungen und persönliche Weiterentwicklung. Zudem sensibilisiert sie Fachpersonen aus dem Behinderten- und Nichtbehindertenbereich, unter anderem durch Partnerschaften, Netzwerkprojekte, Erfahrungsaustausch und Vorträge im In- und Ausland. Blindspot leistet zudem Grundlagenforschung. Ziel ist es, Best-Practice-Beispiele auszutauschen und neue Partnerschaften zu finden, um gemeinsam eine offene Gesellschaft für alle Menschen aufzubauen. Die Inklusionsprojekte und der Arbeitsansatz von Blindspot beruhen auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der UNO-Behindertenrechtskonvention.

Unterstützung ist da, wo sie gebraucht wird

Die Unterstützung wird individuell angepasst – für Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen. Gemeinsam mit den Sozialpädagog:innen legen die Bewohnenden fest, wie viel Unterstützung sie brauchen und in welchen Bereichen. Das können alltägliche Dinge sein, wie Kochen, Aufräumen oder die Organisation der Finanzen. Aber auch die soziale Kompetenz wird trainiert, zum Beispiel wie man mit Stress umgeht oder Konflikte löst.

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Familienzimmer im umgebauten BIm Sozialraumtraining trainieren die jungen Menschen die soziale Kompetenz.

Das eine nennt sich «Wohntraining». Da dreht sich alles um das alltägliche WG-Leben. Der andere Teil nennt sich «inklusives Sozialtraining». Hier geht es darum, sich in sozialen Situationen zu üben. Diese Unterstützung wird regelmässig angepasst, damit sie immer zu den Zielen und Wünschen der Bewohnerinnen und Bewohner passt. Denn Bedürfnisse ändern sich mit der Entwicklung der Kompetenzen.

Erste Erkenntnisse sind vielversprechend

«Die Erfahrungen aus dem Projekt ‹Inklusives Wohnen› tragen zum Systemwechsel in der Schweiz bei», sagt Jonas Staub. Einerseits biete es jungen Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen die Chance, gemeinsam und gleichberechtigt zu leben. Es sei ein Weg, aus der eigenen Blase herauszukommen und die Welt aus einer neuen Perspektive zu sehen. Dabei gehe es nicht nur um das tägliche Zusammenleben, sondern auch um die persönliche Weiterentwicklung.

Andererseits biete das Projekt den Eltern wichtige Perspektiven. «Durch das inklusive Wohnen entsteht die Möglichkeit, dass ihre Kinder in einer Umgebung leben können, in der sie akzeptiert und gefördert werden. Es gibt zahlreiche Studien, die belegen, dass inklusives Wohnen positive Effekte auf das Selbstbewusstsein, die sozialen Fähigkeiten und die Unabhängigkeit von Menschen mit Beeinträchtigungen hat», so Staub.

Jawohn – inklusive WG im Raum Zürich

Der Verein Jawohn hat auf dem Gelände eines ehemaligen Hobelwerks in Oberwinterthur ebenfalls eine inklusive Wohngemeinschaft lanciert. Im November 2023 zogen sechs Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen ein. Im Podcast, produziert von Jahn Graf, berichten Christina Kofler, Geschäftsleiterin von Jawohn, sowie Lucien Lee, Bewohner der WG, über die ersten Monate in der WG, die Rekrutierung geeigneter Mitbewohner:innen und Herausforderungen im Alltag. Hier geht’s zu weiteren Infos und zum Podcast:
www.jawohn.ch

Text: Max de Boer
Fotos: zvg

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