Julia gehen lassen
Julia wird bald 18 und ist schwer beeinträchtigt. Ihre Eltern konnten die Betreuung nicht mehr allein bewältigen – und suchten vor drei Jahren eine Lösung mit einem Teilinternat. Ein leidvoller und trotzdem befreiender Schritt.
Es gibt Entscheidungen, die sich richtig und falsch zugleich anfühlen. Das haben Melanie und Roman Della Rossa in den letzten drei Jahren auf sehr intensive Weise erfahren.
«Wir schaffen es nicht mehr!», liess Melanie Della Rossa im Mai 2021 auf Social Media verlauten. «Julia wechselt im Sommer die Schule. In eine Institution mit Teilinternat. Wir haben einen wundervollen Ort gefunden, an dem sich Julia bestimmt wohlfühlen wird. Reden wir uns dies ein? Nein! Wir sind wirklich überzeugt. Und trotzdem. Wie sollen wir wissen, ob das, was wir entscheiden, im Sinn von Julia ist? Wir können es nur hoffen. Nur spüren. Erahnen. Glauben.»
Julia hat das Angelman-Syndrom, eine seltene, genetisch bedingte Beeinträchtigung. Sie ist nicht in der Lage, zu sprechen, gibt lediglich Laute von sich, hat epileptische Anfälle, schläft nicht durch, kann nicht selbstständig auf die Toilette und nicht allein duschen. Zwar läuft sie, im Gegensatz zu vielen anderen Angelman-Kindern, erkennt aber keine Gefahren und muss darum rund um die Uhr überwacht werden. Vierzehn Jahre lang betreuten ihre Eltern Melanie und Roman Della Rossa Julia zu Hause. Die Mutter dokumentiert den Alltag der Familie, zu der auch Sohn Yanis (19) gehört, in ihrem Facebook-Blog «Julia – der Weg mit unserem ‹Angel›». Immer wieder geht es darum, wie hilflos sie sich darob fühlt, dass Julia sich selbst nicht helfen kann.
«Loslassen kostet weniger Kraft als festhalten, und dennoch ist es schwerer. Aber es befreit auch.»
Damals geht Julia in die Heilpädagogische Schule in Zug, fünfmal die Woche, viermal davon ist sie bis 18 Uhr betreut. Danach ist jeweils ein Elternteil bis zirka 23 Uhr mit ihr beschäftigt, bis sie schläft – und später, wenn sie in der Nacht aufwacht. Angelman-Kinder schlafen sehr schlecht, ihnen fehlt das Schlafhormon Melatonin. Julia ist mitten in der Nacht hellwach und schläft manchmal für mehrere Stunden nicht mehr ein. Dank eines sogenannten Talkers ist es Julia möglich, ein paar ihrer Bedürfnisse auszudrücken. Doch Schmerzen benennen kann sie nicht. Wenn Julia weint oder schreit, dann wissen die Della Rossas zwar: Irgendetwas stimmt nicht. Aber was?
Neue Lösungen suchen, solange die Kraft noch da ist
Es gab kein ausschlaggebendes Ereignis, keinen Vorfall, doch Melanie Della Rossa spürte immer stärker: «Irgendwann werden wir es nicht mehr schaffen.» Sie kann nach vierzehn Jahren Dauerbetreuung nicht mehr, merkt, wie ihre Kräfte schwinden. «Wir müssen jetzt handeln», sagte sie sich, «jetzt, wo wir noch Energie haben.»
Das Schwerste für die Eltern: Julia so früh gehen zu lassen. Sie gingen davon aus, dass ihre Tochter zu Hause bleibt, bis sie erwachsen ist. Und nun ist sie noch früher ausgezogen – zumindest halb – als ein neurotypisches, ein normal entwickeltes Kind. Es war das Resultat einer Kalkulation: Die Eltern waren sich sicher, dass es Julia besser geht, wenn es ihnen besser geht.
Also suchten sie monatelang nach einem Weg, nach einem schmerzhaften, aber entlastenden Kompromiss – und fanden ihn in Form einer Teilinternat-Lösung: Julia geht von Montag bis Mittwoch ins Heilpädagogische Schul- und Beratungszentrum Sonnenberg in Baar, übernachtet zweimal in der Wohngruppe und ist am Donnerstag und Freitag als Tagesschülerin da. Während der Schulzeit bleibt sie auch an jedem zweiten Wochenende im Sonnenberg. Sie hat ein eigenes Zimmer, die Abläufe sind immer gleich.
An einem anderen Ort hätte Julia die ganze Woche über Nacht bleiben müssen, das war den Eltern zu viel. Im Sonnenberg sind viele der Kinder nonverbal oder haben Epilepsie, wie Julia. Die Fachpersonen sind geübt mit Eltern,die sich lösen müssen. Die Kosten übernehmen Kanton und Gemeinde, und es gibt einen Elternbeitrag.
Es war und ist ein einseitiger Ablöseprozess: ein 14-jähriges Mädchen «ziehen zu lassen», das nicht sagen kann, ob es zu diesem Schritt bereit ist, weder sein Einverständnis noch seine Ablehnung ausdrücken kann. Das Kind zu Selbstständigkeit zwingen – wo doch gar keine Selbstständigkeit vorhanden ist. Zwar spürte Melanie, dass auch Julia Distanz braucht, andererseits kann Julia das nicht bestätigen.
Julia hatte zwar schon zuvor auswärts geschlafen, aber immer mit vertrauten Betreuungspersonen. Menschen, die sie seit Jahren kennen und die ihre Körpersprache deuten können. Julia beisst, kneift, tritt, sie kann sich ja nur mit dem Körper ausdrücken, stösst damit auf Ablehnung. Dazu ist sie sehr stark, die Mutter hat keine Chance mehr, wenn Julia bockt. Obwohl sie geistig auf dem Level eines Kleinkindes ist, steckt ihr Körper im Wandel der Pubertät.
Heute wissen sie: Sie hätten es früher tun sollen
Anfangs hatte Melanie Della Rossa Angst, dass Julia sich allein gelassen fühlt, das gewohnte Umfeld vermisst oder Heimweh hat. Roman Della Rossa hingegen war zuversichtlich. Julia lebe so sehr im Jetzt. Er war sich sicher: Sie wird das meistern, die Herzen im Sturm erobern. Doch die Mutter zweifelte: Reden wir uns das nur ein? Oder packt sie eswirklich? Ohnehin gab es nur eine Option: abwarten, hoffen und vertrauen.
Und wie sieht es heute aus? «Wir haben seitdem ein zweites, ganz anderes Leben, in dem wir unabhängig sind, frei und spontan», sagt Melanie Della Rossa. Und fügt an: «Eswar der beste Schritt, den wir als Familie machen konnten.» Mittlerweile ist Julia seit drei Jahren im Sonnenberg. Es habe ungefähr ein Jahr gedauert, bis sie wirklich angekommen sei, sagt ihre Mutter. Nach zwei Jahren musste Julia die Wohngruppe wechseln, weil sie regelmässiger in der Wochenendbetreuung war. «Da dachte ich schon: Oh nein, schon wieder Veränderung! Aber ich bin ja auch Weltmeisterin darin, mir Sorgen zu machen.» Kein Wunder, jahrelang war es ihre Aufgabe, sich zu sorgen.
Dabei laufe es nun sehr gut, wenn man sich austausche, findet die Mutter. Julia sei von lieben und kompetenten Menschen umgeben. Und dennoch: Melanie Della Rossa holt Julia nie in der Wohngruppe ab, sie erträgt es nicht, zu sehen, dass Julia ein anderes Leben neben dem Zuhause hat, über das sie kaum Bescheid weiss. Also trifft sie Julia auf dem Parkplatz. Für den Vater hingegen ist es kein Problem.
«Es ist immer noch unsere Entscheidung, aber es tut auch immer noch weh», sagt Melanie Della Rossa, «wir sehen, dass es ihr gut geht, aber zu Hause wäre es für sie wohl normaler.» Noch immer ist da diese Ambivalenz: Erleichterung hier, schlechtes Gewissen da, Freiheit hier, Sorgen da. Einerseits nehmen die Della Rossas an, dass sie das tun, was Julia auch wollen würde. Andererseits ist es reiner Selbstschutz. Rückblickend ist für Melanie Della Rossa dennoch klar: «Wir hätten es früher tun sollen.»
Vierzehn Jahre lang haben sie allein entschieden: Was isst Julia, was zieht sie an – ‹Mental load› in extremis. Jetzt verteilt sich diese Last. Melanie Della Rossa muss auch gar nicht mehr alles wissen, erzählt sie. Sie gibt die Verantwortung ab, im Sonnenberg schaut jetzt der Sonnenberg. «Loslassen kostet weniger Kraft als festhalten, und dennoch ist es schwerer. Aber es befreit auch. Und das ist ein neues schönes Gefühl», sagt sie.
Mit dem Erwachsenwerden ändert sich alles
Bereits stehen die nächsten Schritte an: Julia ist 17 ½ Jahre alt, wird bald volljährig, dann geht es um die Beistandschaft. Bis sie 20 ist, wird sie im Sonnenberg bleiben können, danach muss sie in eine Wohnform für Erwachsene wechseln. Eine Tagesstruktur kommt nicht infrage, da Julia eine schwere Behinderung hat und sich kaum auf etwas fokussieren kann. Während Kinder eine Eins-zu-eins-Betreuung erhalten, ist das bei den Erwachsenen aus Kostengründen nicht möglich. Dabei braucht Julia doch so viel Aufmerksamkeit. Ob es möglich sein wird, dass sie wie gewohnt einmal pro Woche ins Schwimmbad kann? Melanie Della Ross zweifelt. Und hadert erneut.
Natürlich könnte sie Julia zu Hause betreuen und Assistenzbeiträge erhalten. «Aber Julia will doch auch mit anderen Leuten sein als ihren Eltern.» Melanie Della Rossa seufzt: «Menschen wie Julia haben keine schöne Perspektive. Es liegt am Geld, nicht an den Personen.» Und trotzdem will sie anderen Eltern Mut machen, diesen Schritt des Loslassens zu tun und darin auch eine Chance für das Kind zu sehen. «Früher waren wir einfach im Überlebensmodus. Heute frage ich mich, wie wir das so lange geschafft haben.»
Dies ist eine aktualisierte Form eines Artikels, der ursprünglich im Magazin «Wir Eltern» erschienen ist.
Text: Reto Hunziker
Fotos: zvg