Autismus: Mental
gesund durch die
Schulzeit
Kinder und Jugendliche mit Autismus sind besonders gefährdet, psychisch zu erkranken. Dies aufgrund der hohen Anpassungsleistungen, die sie täglich bewältigen – insbesondere in der Schule. Das muss nicht sein, denn es gibt Möglichkeiten, Regelschulen autismusfreundlich zu gestalten. Zudem zeigt ein Blick in den Unterricht der Heilpädagogischen Schule IFA, wie spezifische Förderung für Kinder mit Autismus gelingt.
Jugendliche im Autismus-Spektrum stehen im Schulalltag oft vor grossen Herausforderungen, die erheblichen Stress auslösen und zu Überforderung, inneren Blockade und mentalem Chaos führen. Nicht selten sind Betroffene am Ende des Tages deshalb extrem müde und erschöpft und können den schulischen Alltag manchmal nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr bewältigen. Aufgrund des hohen Erholungsbedarfs bleibt auch das Lernpensum auf der Strecke und die Prüfungen können nicht erfolgreich absolviert werden. Vom Umfeld wird das oftmals als Motivationslosigkeit oder Faulheit missverstanden.
Angehörige von Kindern und Jugendlichen mit Autismus sind kontinuierlich gefordert, Stresssituationen im Alltag durch gezielte Planung und Vorbereitung zu minimieren. Es gilt, Stressoren, wie etwa Lärmquellen oder soziale Situationen wie Mittagessen und Pausen, zu identifizieren und Strategien zu entwickeln, mit denen die Jugendlichen den Stress besser regulieren können. Eine autismusspezifische Therapie oder ein Training kann helfen, neue Fähigkeiten zu entwickeln, um den Alltag effektiv zu bewältigen und gesund zu bleiben.
Eltern- und Fachberatung
Die Beratung für Eltern- und Fachpersonen informiert, begleitet und berät Familien mit einem Kind mit Behinderung oder chronischer Krankheit und unterstützt Fachpersonen. Schweizweit, für
Privatpersonen kostenlos.
Unterstützendes Schulumfeld hilft, Stress zu reduzieren
Auch die Schulen können einen wichtigen Beitrag leisten, damit den Jugendlichen eine Eingliederung leichterfällt. Wichtig ist, dass sie es ihren Schüler:innen ermöglichen, die Überanpassung an die «neurotypische Norm» zu reduzieren. Eine solche Überanpassung kann auf Dauer gesundheitsschädlich sein. Durch die Aufklärung des Schulumfeldes, die Anpassung der Strukturen hin zu autismusfreundlichen Rahmenbedingungen und die Umsetzung eines Nachteilsausgleichs erreicht man, dass sich die Jugendlichen weniger maskieren müssem (Kopieren neurotypischen Verhaltens, um nicht aufzufallen). Ein gutes Hilfsmittel hierfür ist der ICH-Flyer, den die Stiftung Autismus Schweiz anbietet. Er eignet sich, Stressoren und notwendige Hilfestellungen zu identifizieren und unterstützendes Verhalten des Umfeldes zur Stressregulierung zu definieren.
Das Verständnis des schulischen Umfelds ist die Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung der Massnahmen. Diese zielen meist auf die Bereiche der Teilhabe im Unterricht und in der Peergruppe, den Lernort, aber auch die Strukturierung von Raum und Zeit ab. Auch bezüglich Pausensituationen, Hausaufgaben und Prüfungen können mit wenig Aufwand wirksame Veränderungen erzielt werden.
Bei der Suche nach individuellen Lösungen sollten die betroffenen Jugendlichen stets mit einbezogen werden und die Unterstützung von Fachpersonen im Bereich Autismus sollte eingeholt werden. Auch die Eltern- und Fachberatung der Stiftung visoparents kann helfen. Sie berät Eltern und Angehörige schweizweit kompetent und kostenlos.
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Wie Kindern mit Autismus das Lernen gelingt
Die Stiftung visoparents eröffnete im August 2023 die Sonderschule IFA (Intensiv-Förderung Autismus Zyklus 1) für Kinder im Autismus-Spektrum. Hauptlehrer Robert Rauschmeier und sein Team unterrichten die Kinder mit spezifischen Methoden. Hier gewährt er Einblick in den Schulalltag und zieht ein erstes Fazit.
An der Schule Reize managen lernen
Nebst der Beratung von Angehörigen bietet die Stiftung visoparents weitere Dienstleistungen für Kinder mit Autismus an, unter anderem die Schule IFA (Intensiv-Förderung Autismus Zyklus 1). Diese spezialisierte Sonderschule deckt die Kindergartenstufe bis und mit 2. Klasse ab und wird von zwölf Kindern mit einer Autismus-Spektrum-Störung besucht. Im Fokus der Förderung stehen die (Unterstützte) Kommunikation, die Selbstständigkeit und die sensorische Regulation. In diesem vielseitigen Schul- und Betreuungsumfeld können die Kinder grundlegende Fähigkeiten entwickeln, um künftig im Leben zurechtzukommen.
Dass Kinder mit Autismus, kaum sind sie am Ende des Tages zu Hause angekommen, einen Meltdown erleben, ist leider sehr oft der Fall. Ein Meltdown ist die Folge von Reizüberflutung und zeigt sich etwa mit Schreien, Um-sich-Schlagen und allenfalls Gegenstände-Werfen. Er wird häufig fälschlicherweise für einen Wutausbruch gehalten. Dahinter steckt aber nicht Wut, sondern Überforderung und Überladung durch Reize und manchmal auch Angst bis Panik. Ein «zu grosses Zuviel».
Information und Beratung
Autismus Schweiz
Information, Beratung und Coaching
www.autismus.ch
Information zum Nachteilsausgleich
www.zh.ch
(Unter: Bildung – Bildungssystem – Chancengleichheit)
Damit Kinder lernen können, müssen sie sich physisch, emotional und mental in einem ausbalancierten Zustand von Entspannung und Aufmerksamkeit befinden. Diesen Zustand zu erreichen, ist also Grundvoraussetzung fürs Lernen. Reize zu managen, Hilfsmittel und Strategien kennenzulernen und mit der Zeit selbstständig einzusetzen und sich auch im Schulalltag zwischendurch zu entspannen, all das üben und lernen die Schüler:innen an der Schule IFA deshalb tagtäglich.
Am Anfang des Schuljahres gleicht der Morgenkreis jeweils noch einem Hilfsmittelkatalog. Da sitzen die meisten Kinder mit einem Gehörschutz, einige auf Duploplatten oder Kugelkissen, die einen Füsse sind auf eine Fussbank gestellt, und knapp die Hälfte der Kinder nutzt Beissobjekte und Fingerfidgets. Das Angebot an sensorischen Hilfsmitteln ist gross. Die einen verstärken Reize oder leiten diese um, andere reduzieren die Aufnahmefähigkeit über einen Sinneskanal. Sobald ein Kind alle möglichen Hilfsmittel kennengelernt hat, weiss es, wie es seine Bedürfnisse handhaben kann, und es fällt ihm viel leichter, sich auf den Alltag, seine Mitmenschen, Veränderungen und kognitiv höhere Anforderungen einzulassen. Das Ziel ist es, die Anzahl der Hilfsmittel mit der Zeit kontinuierlich zu senken.
Wie Malik stillsitzen lernte
Eines der Kinder aus der Schule IFA heisst Malik. Der Junge bewegt sich sehr gerne, eigentlich stetig, und gibt Laute von sich. Er kann schon lesen, aber keine zwei Minuten ruhig sitzen. Er mag Abwechslung, wenn er visuell mit Piktogrammen gut darauf vorbereitet wird. Ausser im Eins-zu-eins-Kontakt konnte er sich bisher wenig auf Inhalte einlassen und wirkte meist sehr abwesend. Gruppenrituale findet er nur punktuell interessant, meist will er bereits nach wenigen Augenblicken davonrennen oder -kriechen.
Ausgerüstet mit einem Gehörschutz, wurde er bisher immer als Letzter in den Morgenkreis zu seinem mit Kugelkissen ausgestatteten Stuhl gebracht. Nur mit Socken an den Füssen stellte er sie auf das Akupunkturkissen vor seinem Stuhl und bekam die Sandschlange über die Schultern gelegt. Auf seinen Knien lag ein schweres Sandkissen mit vibrierenden Hexbugs darin und seine Hände beschäftigten sich mit der daran festgemachten Fahrradkette aus Kunststoff.
Mittlerweile wirkt Malik noch immer etwas abwesend, jedoch ist so das Nicht-sitzenbleiben-Können nun kein Thema mehr. Nach einigen wenigen Wochen nutzt er bereits nicht mehr alle Hilfsmittel und bleibt dennoch im Morgenkreis sitzen. Und dann, im Herbst, äussert er sich unerwartet und spontan verbal zum Thema Kalender mit «September» und erstaunt die Lehrpersonen. Nach dem Morgenkreis zieht er sich noch immer jeweils für einige Minuten in sein «Zelt» zurück. Das ist ein dunkles Leintuch an seinem Garderobenhaken. In diesem «Zelt» kommt er sensorisch zur Ruhe, sodass er danach wieder an den Gruppenaktivitäten teilnehmen kann. Sein «Zelt» kann er nach Bedarf aufsuchen und
es ist mobil. So wird er sich auch später im Leben personen- und ortsunabhängig entspannen können.
Ein Tuch ist nur eines von zahlreichen möglichen Hilfsmitteln und Konzepten, wie Kinder mit Autismus zur Ruhe finden. Das Ziel ist es, dass jedes Kind und alle betroffenen Jugendlichen ihre persönlichen, möglichst alltagstauglichen Lösungen finden, sodass auch Schülerinnen und Schüler mit Autismus abends zufrieden statt überreizt nach Hause kommen.
Schule IFA
An der Schule IFA (Intensiv-Förderung Autismus Zyklus 1) werden Kinder mit Autismus im Grundschulalter unterrichtet und spezifisch gefördert. Das Angebot richtet sich vorwiegend an Kinder, die kognitiv das Potenzial haben, in einer Regelschule erfolgreich unterrichtet zu werden.
Text: Myriam Scheidegger, Debbie Selinger
Fotos: Vera Markus