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Fokus: Mentale Gesundheit

Das Gespenst in meiner Kindheit und Jugend

Nicole Haas ist während ihrer Pubertät am damals kaum bekannten ME/CFS, dem Chronischen Fatigue-Syndrom, erkrankt. Sie erzählt, wie die lange Suche nach dem Grund ihrer Erschöpfung und die mangelnde Unterstützung im Umgang mit der unsichtbaren Krankheit sie zusätzlich seelisch belastet hat.

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Das Gespenst in meiner
Kindheit und Jugend

Nicole Haas ist während ihrer Pubertät am damals kaum bekannten ME/CFS, dem Chronischen Fatigue-Syndrom, erkrankt. Sie erzählt, wie die lange Suche nach dem Grund ihrer Erschöpfung und die mangelnde Unterstützung im Umgang mit der unsichtbaren Krankheit sie zusätzlich seelisch belastet hat.

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Nicole Haas ist Reporterin ohne Barrieren und arbeitet seit zehn Jahren als Genesungsbegleiterin/Peer in einem Wohnheim. Sie lebt und arbeitet in Bern und Langenthal.

Wenn ich an meine Kindheit und Jugend zurückdenke, dann steht eine dunkle Wolke über allem: meine Infektanfälligkeit. Sie begann bereits in der ersten Klasse. Daraus entwickelte sich die Krankheit ME/CFS. Zwar war ich erfolgreich in der Schule, hatte Freund:innen, erlebte erste eigenständige Reisen und hatte Hobbys. Aber im Grunde spürte ich dauernd, dass sich etwas Dunkles zusammenbraute und mich immer stärker beeinträchtigte. Ich erholte mich zunehmend schlechter von den viralen Atemwegsinfekten und dem einhergehenden hohen Fieber, war oft erschöpft, mit der Zeit hatte ich zudem dauerhaft grippeartige Muskelschmerzen.

ME/CFS (Myalgische Enzephalopathie/Chronic Fatigue Syndrome) wird umgangssprachlich auch «Chronisches Erschöpfungssyndrom» genannt, ein verniedlichender Ausdruck, der deshalb von Betroffenen abgelehnt wird. Diese haben schon nach kleinen körperlichen oder geistigen Anstrengungen ein starkes Energietief mit Grippesymptomen oder Schmerzen. In der Fachsprache nennt sich das Post-Exertional-Malaise. Mild Erkrankte können noch Teilzeit arbeiten, Schwerstbetroffene haben Mühe, aufrecht zu sitzen und Nahrung einzunehmen. Die Erkrankung wird im Katalog der ICD als neurologische Erkrankung geführt, galt aber lange als psychisch oder gar als gänzlich eingebildet.

Unterstützung fehlte weitgehend

Als ich vor 25 Jahren, in meiner Pubertät, die ersten Symptome bekam, war die Erkrankung nahezu unbekannt. Zuerst fühlte es sich nur sehr lästig an, jede Erkältung und Grippe aufzulesen. Aber je erschöpfter ich nach jedem Infekt wurde, desto stärker machten sich Angst, Verzweiflung und Einsamkeit breit. Ich war regelmässiger Gast bei meinem Hausarzt und versuchte ihm zu erklären, dass ich mich nicht gut fühlte. Er nahm mit mehr oder weniger Widerstand diverse Abklärungen vor, konnte mich aber kaum dabei unterstützen, sinnvoll auf meine Symptome zu reagieren. Auch meine Eltern waren mit der Situation überfordert. Ich hatte lange Zeit keine Erwachsenen um mich,
mit denen ich alles hätte einordnen können. Niemand, der mich dabei unterstützte, über die Situation zu sprechen und mein Leben an meine Erkrankung anzupassen.

Ich war verwirrt. Es war, als ob ein Gespenst in meinem Leben Einzug gehalten hatte. Es gab keinen Namen für dieses Gespenst und ich begann deshalb selbst nachzuforschen. Prompt entwickelte ich eine gute Portion Hypochondrie. Über Monate und Jahre fürchtete ich, die Ärzt:innen könnten etwas übersehen haben. Dass ich möglicherweise Krebs oder HIV hätte. Doch die Medizin fand nichts. Man erklärte mir, ich sei eine gesunde Frau.

Ein Psychologe fand endlich Antworten

Nachdem ich mit 18 total geschwächt aus einer kurzen Narkose erwachte, ging ich verzweifelt zum Schulpsychologen. Der hörte sich meine Geschichte an und kam ziemlich schnell zum Schluss, dass ich neben depressiven Symptomen möglicherweise ME/CFS habe.

Eigentlich hätte mein Lebensweg ab da deutlich einfacher werden können. Ich hätte verstehen können, was mit mir los war, und mein Leben entsprechend anpassen können. Aber ich hatte das Verhalten meines Umfeldes bereits tief in mich eingesogen und ging mit wenig Selbstfürsorge weiter: Ich überging Warnsymptome, ignorierte meine Grenzen. Mein Zustand verschlechterte sich, immer
wieder brach ich zusammen. Meinen Tiefpunkt erlebte ich mit etwa 26, ich benötigte einen Aufenthalt in einem Pflegeheim, weil mein Zustand so schlecht war. Erst ab da ging es langsam aufwärts.

Ich glaube, dass ich mit der fehlenden Akzeptanz meiner Erkrankung und meiner Grenzen keine Seltenheit war. Für viele junge Menschen gibt es nur ein Ziel: dazugehören und mit Gleichaltrigen mithalten können. Alles andere fühlt sich nach Ausgrenzung und Niederlage an.

Kommt hinzu: Junge Menschen informieren sich nicht nur bei ihren Eltern oder Verwandten, sondern sie saugen die gesellschaftlichen Werte in sich auf. Sie beobachten unbewusst, wie inklusiv und wertschätzend unsere Gesellschaft sich gegenüber anders funktionierenden Menschen
verhält, und ziehen möglicherweise den Schluss: «Zu denen will ich nicht gehören.» Während sichtbare Behinderungen meist offensichtlich sind, kann man unsichtbare Erkrankungen bis zu einem gewissen Grad verstecken oder nicht wahrhaben.

Leben mit mehr Selbstfürsorge

Heute bin ich 42 und mein Leben ist immer noch eines mit deutlichen Einschränkungen. Ich kann nach einem zehnjährigen Unterbruch vierzig Prozent in zwei inklusiven Arbeitsplätzen auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeiten. Aber ich habe viele Jahre hinter mir, in welchen ich herausfinden musste, wie ich gut mit der mir verfügbaren Energie leben kann. Anschliessend ans Pflegeheim war ich drei Jahre in einem betreuten Wohnen zu Hause. Dort habe ich mein Leben noch einmal neu gestartet: mit mehr
Liebe und Selbstfürsorge.

Der Weg zu mehr Akzeptanz war gepflastert mit vielen Arbeitstrainings, Versuchen in verschiedenen Branchen, und der Erkenntnis, dass ich nie mehr zu hundert Prozent funktionieren werde. Ich habe auch lernen müssen, mich gegenüber Ärzt:innen und Ämtern zu wehren und mich für mich selbst einzusetzen. Ich habe manch harten Kampf hinter mir. In all den Jahren hat mir die Behindertenbewegung in der Schweiz viel Kraft gegeben. Ich weiss, dass ich nicht alleine bin. Dass andere ebenfalls für mehr Inklusion und Gerechtigkeit kämpfen. So bin ich über viele Jahre selbst zu der Erwachsenen geworden, die ich als junge Frau so dringend gebraucht hätte.

Foto: Urs Hürzeler

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