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Fokus: Mentale Gesundheit

Kinder, wie geht’s euch?

In den Arm nehmen, eine Geschichte vorlesen oder spielen, so brachte Marianne Wüthrich die Welt ihrer Zwillinge früher wieder in Ordnung, wenn sie traurig waren. Jetzt, da sie Teenager sind, ist die Sache etwas komplizierter. Ihr Sohn Max hingegen fühlt sich draussen in der Natur nach wie vor am wohlsten, daran hat auch die Pubertät nichts geändert.

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Kinder, wie geht’s euch?

In den Arm nehmen, eine Geschichte vorlesen oder spielen, so brachte Marianne Wüthrich die Welt ihrer Zwillinge früher wieder in Ordnung, wenn sie traurig waren. Jetzt, da sie Teenager sind, ist die Sache etwas komplizierter. Ihr Sohn Max hingegen fühlt sich draussen in der Natur nach wie vor am wohlsten, daran hat auch die Pubertät nichts geändert.

Als die Jungs klein waren, war es relativ einfach, zu wissen, wie es ihnen geht. Sie lachten oder sie brüllten, vor allem bei den Zwillingen gab es nur wenige Emotionen dazwischen. Meistens waren es die kleinen Dinge in ihrem Leben, die zu Unmut führten, etwa Streit um ein Spielzeug oder ein Sturz mit dem Trotti. Waren sie aus irgendwelchen Gründen betrübt, half es, sie in den Arm zu nehmen, ein Lied zu singen, eine Geschichte zu lesen, gemeinsam zu spielen oder das Lieblingsessen zu kochen. Bei Max funktionierte es zudem über lange Zeit sehr gut, ihn bei Trübsal im Kinderwagen durch die Welt zu schieben. Noch heute kann ich mich auf diese bewährte Strategie verlassen und gehe mit ihm nach draussen, wenn er schlechte Laune hat. Das funktioniert meistens.

Mit dem Schulstart wurde das Leben kompliziert. Für Max, weil wir nicht mehr immer wussten, was in seinem Tagpassiert ist und er uns nichts davon erzählen konnte. Ich zerbrach mir oft den Kopf darüber, weshalb er jedes Mal so genervt war, wenn er in den Schulbus steigen musste. Hatte er einfach keine Lust, oder steckte mehr dahinter? Diese und andere Fragen beschäftigten uns fortan. Und ja, in Bezug auf den Schulbus fanden wir irgendwann heraus, dass einer der Fahrer Max die Beine zusammenband, weil er angeblich unruhig war und im Bus kickte, was den Fahrer ablenkte. Unsere Meldungen an Fahrdienst und Schule wurden mehr oder weniger mit Schulterzucken und dem
Hinweis quittiert, man hätte mit dem Fahrer gesprochen, es würde nicht mehr vorkommen. In der Folge fuhren wir Max oft selbst zur Schule und waren unendlich froh, als er nach den Sommerferien eine andere Schule besuchen durfte, die er zu Fuss erreichen konnte.

Ob Max glücklich ist, bleibt ein Geheimnis

Max scheint stark im Hier und Jetzt zu leben. Es macht keinen Sinn, ihm zu erzählen, was für Pläne wir übernächste Woche haben. Einen Tagesplan kann er hingegen mühelos erfassen, mehr interessiert ihn nicht oder bringt ihn durcheinander. Er wird häufig dann unruhig, wenn es ihm nicht schnell genug geht. Essen ist ein gutes Beispiel: In der Küche läuft es rund. Der Tisch wird gedeckt, es
wird gekocht, Max schaut in die Töpfe, setzt sich an den Tisch… und muss warten, bis die Pfanne auf dem Tisch steht. Dieses Warten macht Max richtig wütend. Wir haben gelernt, den Tisch deshalb erst im letzten Moment zu decken. Das entschärft die Situation wenigstens etwas. Die Ungeduld aber, die bleibt.

Max ist nach wie vor schwer zu lesen, ich glaube aber, dass er im Grunde ein glücklicher Mensch ist. In guten Zeiten lacht er, ruht in sich. Ist er unglücklich, schreit er, schlägt sich selbst, weint. Es gibt viele Tage, die schon frühmorgens beim Aufstehen so starten. Warum? Das weiss niemand wirklich. Ich persönlich finde ja, dass die frühmorgendliche schlechte Laune mit der Pubertät zugenommen hat. Max’ Vater aber meinte nur: «Nö, das war schon immer so.» Die Wahrheit liegt vermutlich irgendwo
dazwischen. Ich denke, Max ist grundsätzlich nicht unzufrieden mit seinem Leben, aber wahrscheinlich würde er uns gerne mehr mitteilen, als er mit seiner Einschränkungkann. Für sein Umfeld bleibt es eine grosse Herausforderung, zu verstehen, was Max mittelfristig wirklich glücklich macht. Wir können ja nicht jeden Tag durch den Wald wandern – obwohl es ihm definitiv gefallen würde.

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Als sie klein waren, erzählten die Zwillinge ausführlich von ihrem Tag. Das half den Eltern, Probleme frühzeitig anzugehen.

Das Erzählen der Kinder half mir ungemein

Auch bei den Zwillingen brachte die Einschulung viele Fragen mit sich. Im Kindergarten durften sie noch zusammen sein, ab der ersten Klasse waren sie in Parallelklassen eingeteilt. Wir hätten darüber ein Buch schreiben können. Hatte einer die beste Lehrperson aller Zeiten, passte es beim anderen gar nicht. Für uns war das immer wieder eine Gratwanderung, denn ein Stück weit ist das Leben so: Nicht alle Vorgesetzten sind toll, die wenigsten Teamkolleg:innen werden Freund:innen fürs Leben. Das fängt schon in der Schule an. Schulwege bieten ungemein viel Konfliktpotenzial. Was ist denn noch normal? Wann will sich behaupten gelernt sein? Und wann ist es Schikane oder gar Mobbing? Wie sollen sich unsere Kinder verhalten, wenn die Grösseren die Kleinen piesacken?

Vielleicht auch deshalb, weil ich selbst als Kind eine Weile unter Schulwegauseinandersetzungen gelitten habe, habe ich immer ganz genau hingehört. Und war sehr froh, dass meine Jungs in aller Regel viel erzählten. Nicht immer war alles schlüssig, aber meistens konnten wir als Eltern abwägen, ob Gespräche wichtig waren, auch mit Gspöndli oder Lehrpersonen. Waren wir nicht sicher, konnten wir nachfragen und herausfinden, wie es ihnen geht. Auch als Tom eine Weile wirklich nicht klarkam mit den wechselnden Ansagen einer Lehrperson, als er im wahrsten Sinne des Wortes gegen die Wand lief, konnten wir ihm recht schnell helfen und Wege finden, damit er – meistens – wieder gerne in die Schule ging.

Jetzt sind sie Teenager. Die Zwillinge grenzen sich ab, von uns, voneinander. Fragen werden oft nur noch einsilbig oder mit Grunzlauten beantwortet. Wie geht es dir? Die Antwort darauf kann sich innert Minuten um 180 Grad drehen. Ich würde sie dann oft gerne in den Arm nehmen, aber das ist viel zu viel der Nähe. Geschichten vorlesen? Spiele spielen? Die Zeiten der einfachen Lösungen sind vorbei. Das Lieblingsessen kochen? Ja, das funktioniert manchmal noch, immerhin.

Text und Fotos: Marianne Wüthrich

Marianne-Wüthrich

Marianne Wüthrich
Autorin und Präsidentin der Stiftung visoparents

In dieser Kolumne schreibt sie über ihren Alltag mit Max (17) und den Zwillingen Tom und Leo (14). Max ist infolge des Charge-Syndroms mehrfach behindert und im Autismus-Spektrum.

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