«Im Heim wird sie dann
schon recht erzogen»
Yvonne Nussbaum war das erste Kind, das ein Angebot der heutigen Stiftung visoparents nutzte – und sie ist die Tochter der Gründer-Eltern Yvonne und Werner Weiler. Damals, vor 60 Jahren, ging sie nicht gerne zur Schule. Trotzdem ist sie stolz, dass aus dem Engagement ihrer Eltern die Stiftung visoparents hervorgegangen ist.
Yvonne Nussbaum (geb. Weiler) ist die Tochter der Gründer-Eltern von visoparents. Sie kam 1951 zu früh zur Welt und musste die erste Zeit im Brutkasten verbringen. Die hohe Sauerstoffkonzentration schädigte ihre Netzhaut und Yvonne erblindete auf einem Auge vollständig, auf dem anderen hat sie nur noch wenig Sehreste. Als sie eingeschult wurde, hätte sie in ein weit entferntes Internat gehen sollen. Ihre Eltern jedoch legten sich mit den Behörden an und kämpften dafür, dass ihre Tochter zuerst zu Hause und später in der neu eröffneten Blindenschule in Zürich unterrichtet werden konnte. Zusammen mit anderen Eltern gründeten Weilers eine Interessensgemeinschaft, 1963 entstand daraus die «Schweizerische Vereinigung der Eltern blinder und sehschwacher Kinder». Daraus ging die heutige Stiftung visoparents hervor. Yvonne Nussbaum hat zwei Geschwister: Max (60) und Therese (70). Die Eltern Yvonne und Werner Weiler sind mittlerweile verstorben.
Yvonne Nussbaum, vor 60 Jahren legten Ihre Eltern den Grundstein für die heutige Stiftung visoparents. Sie kämpften dafür, dass Sie nicht ins Blindenheim im Kanton Bern gehen mussten, sondern zu Hause unterrichtet werden konnten. Wie haben Sie diese Zeit in Erinnerung?
Yvonne Nussbaum: Damals lebten wir in der Stadt Zürich und ich weiss noch, wie meine Mutter oft sagte: «Kinder, kommt, wir gehen am See spazieren, damit Papa Ruhe zum Schreiben hat.» Wir mussten ihn oft entbehren, weil er Rekurse oder Eingaben verfassen musste. Meine Mutter hielt ihm dafür den Rücken frei.
War Ihnen klar, dass Sie weit weg in ein Heim hätten gehen müssen, wenn Ihre Eltern sich nicht so heftig dagegen gewehrt hätten?
Ja, das war mir bewusst. Ich bin froh und meinen Eltern unendlich dankbar, dass sie so engagiert für mich kämpften. Meine Mutter hat mir erzählt, dass ihr damals die Verantwortlichen sagten: «Machen Sie sich keine Sorgen! Wenn Ihre Tochter sieben Jahre alt ist, kommt sie sowieso ins Heim – da wird sie dann schon recht erzogen.» Mich wegzugeben, kam meinen Eltern aber nie in den Sinn. Mein Vater war oft traurig, dass andere Eltern ihre sehbehinderten Kinder weggeben mussten.
Wie erlebten Sie Ihre Schulzeit?
Die ersten zwei Jahre wurde ich zusammen mit anderen Kindern in unserem Wohnzimmer unterrichtet. Im Gegensatz zu mir, die auf einem Auge noch einen Sehrest hat, war unser Lehrer ganz blind und lehrte uns vor allem Brailleschrift. Das langweilte mich. Obwohl ich heute froh darüber bin, dass ich Braille beherrsche, hätte ich mir damals gewünscht, auch mit herkömmlichen Buchstaben und Zahlen zu arbeiten. Ich finde, man hätte damals individueller auf die Fähigkeiten der Kinder eingehen müssen. Aber ich wurde in meiner gesamten Schulzeit in altersdurchmischten Klassen unterrichtet, da blieb kein Platz für individuelle Förderung.
Nach zwei Jahren gaben die Behörden endlich nach. Die Blindenschule in der Stadt Zürich wurde eröffnet und Sie konnten dort zur Schule gehen.
Ja, aber auch da langweilte ich mich. Der Unterricht forderte mich kaum und mir fehlt heute noch ein grosser Teil Allgemeinbildung, besonders in Mathematik, Algebra und Geschichte. Ich war froh, als die obligatorische Schulzeit endlich ein Ende nahm.
Sie bildeten sich schliesslich zur Telefonistin aus. Wie kam das?
Ich wusste zuerst nicht so recht, wie es beruflich weitergehen sollte, da es damals für blinde Menschen nur sehr wenige Möglichkeiten gab. Weil mein Vater den Behörden unangenehm war, legten sie mir zudem gerne Steine in den Weg. Ich erinnere mich an einen Besuch bei der Berufsberatung. Da sagte mir die verantwortliche Person: «Sie können ja Bürstenbinderin werden!» Ich war damals 15 Jahre alt und getraute mich nicht, mich zu wehren. Ich wusste aber, dass ich mehr wollte. Die Ausbildung zur Telefonistin wurde damals gerade lanciert. Ich musste zuerst zwei Jahre am Institute des aveugles in Lausanne Französisch lernen. Danach folgten zwei Lehrjahre in Basel. Das war die schönste Zeit meiner Jugend.
Weshalb?
Weil meine Ausbildnerin Rücksicht darauf nahm, dass ich nicht mehr mit Braille arbeiten wollte. Sie erlaubte mir Heft und Bleistift und ging auf meine Wünsche ein. Zudem lernten wir Französisch, Englisch und Italienisch sowie diverse kaufmännische Fertigkeiten, etwa Briefe und Offerten schreiben. Das gefiel mir.
Welchen Beruf hätten Sie gerne erlernt – wenn alles möglich gewesen wäre?
Ich wäre gerne Schuhverkäuferin geworden, weil ich den Kontakt mit Menschen mag. Das wussten meine Eltern und deshalb durfte ich mal eine Woche lang in einem Taschengeschäft mitarbeiten. Das war schön. Aber eine reguläre Anstellung wäre nicht möglich gewesen, da ich aufgrund meiner Sehbehinderung die Abrechnung nicht hätte machen können. Der Zufall wollte es, dass mein späterer Mann Schuhverkäufer war.
Das Engagement Ihrer Eltern entwickelte sich weiter und wurde zur Stiftung visoparents, die heuer ihr 60-Jahr-Jubiläum feierte. Wie fühlt sich das an?
Mein Vater erzählte mir oft von visoparents und war stolz darauf, was aus der kleinen Elternvereinigung geworden ist. Meine Eltern haben viel Zeit und Herzblut investiert – schön, dass daraus etwas Grosses entstanden ist!
Interview und Foto: Regula Burkhardt