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Fokus: Autismus

Autismus: Wenn Kinder die Welt anders wahrnehmen

Geschätzt ein bis zwei Prozent der Menschen in der Schweiz sind im Autismus-Spektrum. Dabei unterscheiden sich ihre Symptome oft grundlegend. Unterstützung und Förderung sollten deshalb stets individuell auf die betroffenen Kinder zugeschnitten sein. Ein paar Fakten über eine «Entwicklungsstörung» mit zahlreichen Facetten.

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Autismus:
Wenn Kinder die Welt
anders wahrnehmen

Geschätzt ein bis zwei Prozent der Menschen in der Schweiz sind im Autismus-Spektrum. Dabei unterscheiden sich ihre Symptome oft grundlegend. Unterstützung und Förderung sollten deshalb stets individuell auf die betroffenen Kinder zugeschnitten sein. Ein paar Fakten über eine «Entwicklungsstörung» mit zahlreichen Facetten.

Die Sonne scheint, Kinder spielen auf dem Spielplatz. Sie rennen einander hinterher, schaukeln, rutschen und lachen laut. Von irgendwoher ertönt plötzlich das Dröhnen einer Maschine. Vor wenigen Augenblicken war die Welt noch in Ordnung. Jetzt aber schreit der sechsjährige Ben. Er schreit
markerschütternd, schüttelt dazu den Kopf und flattert mit den Händen. Seine Mutter geht zu ihm hin, redet sanft auf ihn ein und reicht ihm dann seinen Hörschutz. Ben nimmt ihn dankbar an, stülpt ihn über seine Ohren und entspannt sich danach langsam wieder. Auch seine Mama wirkt erleichtert. Nicht immer findet sie die Ursache für Bens Schreie auf Anhieb. Dieses Mal lag sie richtig, der Lärm wurde ihrem Kind zu viel. Es hätte auch das grelle Sonnenlicht sein können, das ihn manchmal in den Augen schmerzt.

Oft betrachten Kinder mit Autismus lieber sich bewegende Objekte als menschliche Gesichter.

Ben ist im Autismus-Spektrum. Das ist, medizinisch ausgedrückt, eine neuronale Entwicklungsstörung, die sich in unterschiedlichen Bereichen zeigen kann. Ben, beispielsweise, nimmt Sinneseindrücke viel stärker wahr als neurotypische Personen. So stark, dass ihm diese Eindrücke manchmal regelrecht Schmerzen bereiten. Er ist auf Lärm und Licht, aber auch in Bezug auf gewisse Berührungen sehr empfindlich. Das kann etwa die Naht eines T-Shirts oder eine Etikette am Kragen sein. Weil sich Ben aufgrund seines Autismus nicht gut artikulieren kann, reagiert er auf Schmerz oder Überforderung mit Schreien und Flattern der Hände.

Debbie Selinger kennt zahlreiche ähnliche Situationen. Sie arbeitet als Verantwortliche Heilpädagogik und Autismus bei der Stiftung visoparents und berät Eltern sowie Fachpersonen rund ums Thema Autismus. An Weiterbildungs- und Informationsanlässen referiert sie regelmässig über Themen wie Kommunikation, Essen, Spielen oder Umgang mit schwierigem Verhalten. Selinger sagt: «Eine gelingende Kommunikation mit dem Kind ist für den Alltag unabdingbar. Ist eine verbale Kommunikation nicht möglich, lohnt es sich, viel Zeit und Energie in die Unterstützte Kommunikation zu investieren.» Sie rät, mit Piktogrammen oder anderen Möglichkeiten der Unterstützten Kommunikation frühzeitig eine solide Basis der Kommunikation aufzubauen, damit das Kind verstehen und sich mitteilen kann. Nebst der Kommunikation sollten Kinder mit Autismus so früh wie möglich darin unterstützt und gefördert werden, ihre spezielle Sensorik zu managen sowie ihre Selbstständigkeit zu trainieren, um besser auf die Herausforderungen im Alltag und in der Schule vorbereitet zu sein.

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…unser Interview mit Dr. med. Christine Kuhn mit dem Thema, was eine Autismus-Diagnose für ein Kind bedeutet. Ausserdem erzählt uns Matthias Huber, Autismus-Experte mit Asperger-Syndrom, in einem Erfahrungsbericht von seinen Kindheitserfahrungen.

Die Welt im Autismus-Spektrum

Im Autismus-Spektrum zu sein, sei ein bisschen so, wie als einzige nüchterne Person unter Betrunkenen zu sein, soll die australische Komikerin und ASS-Betroffene Hannah Gadsby einst über Autismus gesagt haben. Oder anders ausgedrückt: Menschen mit Autismus nehmen ihre Umgebung anders wahr als neurotypische Menschen. Allerdings sind die Symptome sehr unterschiedlich, und so individuell sind auch die betroffenen Personen. Für viele sind soziale Spielregeln ein Buch mit sieben Siegeln, sie können die Mimik des Gegenübers nicht lesen und es fällt ihnen schwer, Blickkontakt zu halten. Die einen sind sehr kommunikativ. Sprechen sie über Dinge, die sie interessieren, sind sie kaum zu bremsen. Andere haben eher Mühe, sich zu artikulieren, brauchen für Antworten Zeit, und wieder andere verfügen nicht über Lautsprache. Menschen mit Autismus können sich oft schlecht in andere hineinversetzen. Manche nehmen Details statt das grosse Ganze wahr oder haben spezifische, eingeschränkte Interessen, oft an Daten, Zahlen oder Fahrplänen. Auch stereotype, sich wiederholende Verhaltens- und Bewegungsweisen, wie beispielsweise Schaukeln des Oberkörpers, kommen vor.

Neurodiversität

Liest man über Autismus, stösst man auf die Begriffe «neurodivers», «neurotypisch» und «neurodivergent». Die Neurodiversitätsbewegung, u.a. repräsentiert durch Menschen mit Autismus, ADHS, Hochbegabung oder Legasthenie, vertritt die Ansicht, dass menschliche Wahrnehmungen und Denkweisen durch eine breite neurologische Vielfalt geprägt sind. Somit kann jeder Mensch als neurodivers bezeichnet werden. Eine gesellschaftliche Mehrheit, die üblichen Normvorstellungen entspricht, wird in diesem Verständnis neurotypisch genannt. Personengruppen, die von diesen Normen im Wahrnehmen und Denken abweichen, werden als neurodivergent bezeichnet. Eine zentrale Aussage der Neurodiversitätsperspektive ist dabei, dass die Begriffe «neurotypisch» und «neurodivergent» nicht wertend, sondern ausschliesslich beschreibend zu verstehen sind.

Viele Kinder im Autismus-Spektrum reagieren, wie am Beispiel von Ben eingangs aufgezeigt, auf gewisse Reize überempfindlich. Manche sind auch in Bezug auf den Tastsinn heikel und fassen keine glitschigen, klebrigen oder matschigen Dinge an. Nicht selten suchen sie bei Langeweile oder Stress sensorische Reize und betrachten beispielsweise Gegenstände, die sich drehen oder glitzern.

Steigende Zahlen und neuer Diagnosen-Katalog

Lange unterschied man zwischen unterschiedlichen Diagnosen, etwa dem Frühkindlichen Autismus, dem Asperger-Syndrom und dem Atypischen Autismus. Das ändert sich nun. 2022 wurde der neue Diagnosen-Katalog ICD-11 eingeführt, welcher seinen Vorgänger bis 2027 komplett ablösen soll. Mit dieser Änderung wird «nur» noch die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung (ASS) gestellt und somit die sogenannte Entwicklungsstörung stärker in ihrer Dimension betrachtet.

In der Schweiz sind die Autismus-Diagnosen nicht systematisch erfasst und Zahlen dazu nicht repräsentativ. Bisher ging man davon aus, dass etwa ein Prozent aller Menschen im Autismus-Spektrum ist. Neuere Zahlen, insbesondere aus den USA, liegen bei zwei Prozent. Dr. Prof. Andreas Eckert, Leiter der Fachstelle Autismus an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik, nennt den Hauptgrund, weshalb die Zahlen steigen: «In den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren hat das Wissen über Autismus stark zugenommen – weshalb er öfter erkannt und diagnostiziert wird.» Bei den Betroffenen sind die männlichen übervertreten. Auf ein Mädchen mit Autismus kommen rund drei bis vier Jungs. «Diese Zahl ist mit Vorsicht zu geniessen. Man hat festgestellt, dass die aktuelle Diagnostik Mädchen schlechter erfasst, insbesondere dann, wenn sie kognitiv und verbal stark sind. Hinzu kommt, dass Mädchen häufig über höhere Kompetenzen verfügen, sich anzupassen», erklärt Eckert.

Die Ursache für Autismus ist nach wie vor nicht vollständig geklärt. Forschungen deuten aber klar darauf hin, dass genetische Faktoren eine zentrale Rolle spielen. Auch gewisse Medikamente, die die Mutter während der Schwangerschaft einnimmt, sowie höheres Alter von Mutter und Vater können die Wahrscheinlichkeit erhöhen.

Save the date!

Am 7. Juni 2024 findet in Zürich das Autismus-Forum statt, organisiert von Autismus Schweiz und Stiftung Kind und Autismus. Gast ist der renommierte australische Autismus-Kenner Professor Tony Attwood.
https://portal.autismus.ch/veranstaltungen/143

Inklusion sollte machbar sein

Die Schweiz hat sich dazu verpflichtet, ein inklusives Bildungssystem anzubieten, und müsste demnach auch Kinder mit Autismus in die Regelschule integrieren. Allerdings wird die Integration kantonal sehr unterschiedlich umgesetzt oder teils gar gänzlich wieder infrage gestellt. Ein überlastetes Schulsystem und fehlende Ressourcen sollen schuld sein. Für eine gelingende Inklusion von Kindern mit ASS seien aber oft nicht komplette Veränderungen nötig, sagt Autismus-Experte Eckert: «Oft braucht es nur etwas mehr Vorhersehbarkeit, mehr Transparenz und Lehrpersonen, die Autismus-Wissen mitbringen, damit die betroffenen Kinder den Schulalltag besser meistern können.»
Gleichzeitig, so Eckert, sei es in der Praxis aber manchmal auch sinnvoll, eine Heilpädagogische Schule in Betracht zu ziehen. «Wichtig ist, dass dem Kind in der Schule ein individuell passendes Lernumfeld angeboten wird.»

Stichwort Nachteilsausgleich

Kinder mit Autismus haben besondere Lernvoraussetzungen. Erhalten sie in der Regelschule keine angemessene Hilfestellungen, ist die Beurteilung ihrer Leistungen diskriminierend. Deshalb haben die Kinder Anspruch auf einen Nachteilsausgleich. Das heisst, das Lernen und Prüfen des Schulstoffes muss begleitet sein und wo nötig müssen Hilfsmittel eingesetzt werden können. Der Nachteils-ausgleich bedeutet aber nicht, dass die Lernziele oder Noten angepasst oder Fächerdispens erteilt wird, sondern dass die Bedingungen an die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen angepasst werden.

Wenn Besonderheiten zu Stärken werden

Menschen mit Autismus haben Stärken. Sie sind oft ehrlich und in ihrer Kommunikation direkt. Lügen sind ihnen fremd. Sie können sich häufig gut mit Details auseinandersetzen und sehen dadurch Einzelheiten, die anderen entgehen. Gelingt es, junge Menschen mit Autismus in ein geeignetes Arbeitsumfeld zu integrieren und ihnen Aufträge zu geben, die ihren Fähigkeiten entsprechen,
sind sie oftmals zuverlässige und überaus loyale Mitarbeitende.

Information und Beratung

Autismus Schweiz
Als Elternvereinigung gegründet, ist Autismus Schweiz heute eine anerkannte Autismus-Organisation. Sie ist Netzwerk für Eltern, Angehörige, Betroffene und Fachleute und bietet Workshops, Beratung und unbürokratische Unterstützung an. Die Website bietet viel
Wissenswertes.
www.autismus.ch

Kind und Autismus
Die Stiftung Kind und Autismus ist ein Kompetenzzentrum für Kinder und Jugendliche mit Autismus in Urdorf ZH. Nebst einem Sonderschulheim mit Tagessonderschule und Internat bietet sie Beratungen sowie Kurse für Fach- und Bezugspersonen an.
www.kind-autismus.ch

Sprechstunde für (heil-)pädagogische Fachpersonen
Die Sprechstunde der Fachstelle Autismus der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik HfH richtet sich an Fachpersonen aus pädagogischen und therapeutischen Arbeitskontexten. Sie bietet kostenfreie Kurzberatungen zu konkreten Fragen rund um die schulische und therapeutische Förderung von Kindern im Autismus-Spektrum an.
www.hfh.ch/fachstelle-autismus

Eltern-Treff Autismus in Dübendorf ZH
Der Treff richtet sich an Eltern von Kindern mit einer Autismus- oder Verdachtsdiagnose, die sich vernetzen möchten. Alternativ gibt es auch die Möglichkeit, sich via Chat-Gruppe auszutauschen. Anfragen unter: elternundfachberatung@visoparents.ch
www.visoparents.ch/kitaautismus

Quellen und Infos:

Der Bund stellt die Weichen

2018 hat der Bundesrat einen 60 Seiten langen Bericht veröffentlicht, der Massnahmen für die Verbesserung der Diagnostik, der Behandlung und der Begleitung von Menschen mit Autismus in der Schweiz vorschlägt. Ziel ist es, die Situation der betroffenen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen zu verbessern. Auf politischer Ebene ist der Bedarf also erkannt worden, nun gilt es, die Empfehlungen nicht nur auf Bundes sondern auch auf kantonaler sowie auf der Gemeinde-Ebene umzusetzen.

Text: Regula Burkhardt Fotos: Adobe Stock

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